Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
Schlüssel an seinem Bund angebracht, als sie den Gang hinunter gegangen waren. Oder vielleicht später, als er vom Balkon runterhing. Als er aus dem Krankenhaus kam, hatte er den Sicherheitsdienst des Hauses seine Wohnungstür aufschließen lassen müssen. Seine Schlüssel hatten auf dem Boden im Wohnzimmer gelegen. Wentz hatte jede Menge Zeit gehabt, um die Schlüssel an seinem Bund anzubringen.
Pierce konnte sich keinen Reim auf das alles machen. Warum? Was wurde hier gespielt? Darauf hatte er zwar keine Antwort, aber er wusste, wo er sie finden würde – oder anfangen würde, sie zu finden. Er drehte sich um und ging zum Lift zurück.
Drei Minuten später steckte er den größeren der zwei fremden Schlüssel in das Vorhängeschloss an der Tür von Lagerraum 231. Er drehte ihn, und das Schloss sprang mit mechanischer Präzision auf. Er zog es aus dem Bügel und warf es auf den Boden. Dann packte er den Türgriff und zog ihn nach oben.
Die Tür gab ein lautes metallisches Quietschen von sich, das Pierce durch und durch ging und durch den Korridor hallte, und kam oben mit einem lauten Scheppern zum Stillstand. Ohne den Griff loszulassen, stand Pierce mit nach oben gestrecktem Arm da.
Das dreieinhalb mal drei Meter große Abteil war dunkel. Aber über seine Schultern fiel vom Korridor Licht hinein. In seiner Mitte stand ein großer weißer Kasten, der ein tiefes Summen von sich gab. Pierce machte einen Schritt in das Abteil, und sein Blick fiel auf eine herabhängende Schnur zum Einschalten der Deckenbeleuchtung. Er zog daran, und der Raum füllte sich mit Licht.
Der weiße Kasten war eine Gefriertruhe. Ihr Deckel war mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert, das sich auf jeden Fall mit dem zweiten fremden Schlüssel öffnen ließe.
Er brauchte die Gefriertruhe nicht zu öffnen, um zu wissen, was sie enthielt, aber er öffnete sie trotzdem. Er fühlte sich dazu gezwungen, möglicherweise von dem Wunsch, sie möge leer sein und alles wäre nur Teil eines raffinierten Streichs. Wahrscheinlich lag es allerdings daran, dass er es mit eigenen Augen sehen musste, damit es keine Zweifel und kein Zurück mehr gäbe.
Er nahm den zweiten fremden Schlüssel, den kleineren, und öffnete das Vorhängeschloss. Er entfernte es und klappte den Überfall hoch. Dann hob er den Deckel der Gefriertruhe, und die luftdicht aufeinander sitzenden Gummiabdichtungen machten ein kurzes schmatzendes Geräusch, als sie sich voneinander lösten. Aus der Truhe puffte kalte Luft, und ein feuchter, übelriechender Geruch stieg in seine Nase.
Mit einer Hand hielt er den Deckel auf. Er spähte durch den Nebel, der wie ein Geist aus der Truhe aufstieg, nach unten. Und er sah einen menschlichen Körper auf dem Boden der Truhe liegen. Eine nackte Frau, zusammengekrümmt wie ein Embryo, ihr Hals eine blutige Masse. Sie lag auf der rechten Seite. Den Boden der Truhe bedeckten Pfützen schwarz gefrorenen Blutes. Auf dem dunklen Haar und der nach oben gewandten Hüfte der Toten hatte sich weißer Raureif gebildet. In ihr Gesicht war Haar gefallen, verdeckte es aber nicht ganz. Er erkannte das Gesicht sofort. Er hatte es zwar nur auf Fotos gesehen, aber er erkannte es.
Es war Lilly Quinlan.
»O Gott …«
Er sagte es ruhig. Nicht überrascht, sondern wie eine grausige Bestätigung. Als er den Deckel losließ, fiel er mit einem dumpfen Knall, lauter als erwartet, zu. Er erschreckte ihn, aber nicht genug, um die Panik, die ihn befallen hatte, völlig zu überdecken. Er drehte sich um und glitt an der Gefriertruhe nach unten, bis er, die Ellbogen auf den Knien, mit den Händen das Haar an seinem Hinterkopf raufend, auf dem Boden zu sitzen kam.
Er schloss die Augen und hörte ein anschwellendes Stampfen, als käme auf dem Korridor jemand in seine Richtung gelaufen. Dann merkte er, dass es von innen kam, dass es Blut war, das in seinen Ohren pochte, während ihm schwindlig wurde. Er befürchtete, ohnmächtig zu werden, aber ihm war klar, dass er bei Bewusstsein bleiben musste. Was ist, wenn ich ohnmächtig werde? Was ist, wenn ich hier gefunden werde?
Pierce riss sich zusammen, tastete nach der oberen Kante der Gefriertruhe und zog sich hoch. Mühsam das Gleichgewicht haltend, kämpfte er gegen die Übelkeit an, die in seinen Magen kroch. Er legte sich über die Gefriertruhe und umarmte sie, sodass seine Wange auf dem kalten weißen Deckel zu liegen kam. Er atmete tief ein, und bald ging alles vorüber, und sein Verstand war wieder klar. Er
Weitere Kostenlose Bücher