Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
hielt es so, dass er die Tasten sehen konnte. Er drückte die Wahlwiederholung und wartete. Der Anruf wurde wieder zu Lucys Mailbox durchgestellt. Er wollte laut fluchen, aber jetzt schmerzte sein ganzes Gesicht, wenn er den Mund bewegte. Blind tastete er nach der Basisstation und legte das Telefon auf.
Es läutete, als seine Hand noch daran war, und er hielt es sich wieder ans Ohr.
»’lo?«
»Hier Nicki. Kannst du sprechen? Ist alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Soll ich später noch mal anrufen?«
»Nein, es is nich ahes in Ohdnug.«
»Was ist los? Warum sprichst du so komisch? Warum hast du die Nummer dieser Frau gebraucht?«
Trotz seiner Schmerzen und seiner Angst und allem anderen merkte er, dass es ihn ärgerte, wie sie »diese Frau« sagte.
»Lahge Geschiche uhd ich kah … ich …«
Er spürte, wie er das Bewusstsein verlor, und als er von der Wand auf den Boden zu sacken begann, jagte die Veränderung seiner Körperhaltung stechende Schmerzen durch seinen Oberkörper und entriss ihm ein aus tiefster Brust kommendes Stöhnen.
»Henry! Bist du verletzt! Henry! Kannst du mich hören?«
Pierce rutschte mit dem Gesäß über den Teppich, bis er flach auf dem Rücken liegen konnte. Irgendwie drang eine instinktive Warnung in sein Bewusstsein durch. Wenn er diese Haltung beibehielt, konnte er an seinem eigenen Blut ersticken. Gedanken an Rockstars, die an ihrem eigenen Erbrochenen erstickten, schossen ihm durch den Kopf. Er hatte das Telefon fallen lassen, und es lag neben seinem Kopf auf dem Teppich. In seinem rechten Ohr konnte er das blecherne Geräusch einer fernen Stimme hören, die seinen Namen rief. Er glaubte, die Stimme zu erkennen, und musste lächeln. Er dachte an Jimi Hendrix, der an seiner Kotze erstickt war, und fand, lieber würde er an seinem Blut ersticken. Er versuchte zu singen, seine Stimme ein feuchtes Hauchen.
»sus mi wai ai ’iss the sai …«
Aus irgendeinem Grund konnte er keine Ks sprechen. Das war eigenartig. Aber bald spielte es keine Rolle mehr. Die schwache Stimme in seinem rechten Ohr entfernte sich immer weiter, und schon bald trat an seine Stelle ein lautes Plärren in der Dunkelheit. Und nach kurzem war auch das weg, und dann war nur noch Dunkelheit um ihn herum. Und er mochte die Dunkelheit.
21
Eine Frau, die Pierce nie gesehen hatte, strich ihm mit den Fingern durchs Haar. Die Geste erschien ihm angesichts ihrer Intimität seltsam distanziert und mechanisch. Dann beugte sich die Frau tiefer zu ihm herab, und er dachte, sie würde ihn küssen. Aber sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Dann hielt sie ein Gerät hoch, eine Lampe, und leuchtete ihm damit erst in ein Auge, dann in das andere. Dann hörte er die Stimme eines Mannes.
»Rippen«, sagte er. »Drei und vier. Möglicherweise haben wir eine Punktion.«
»Wenn wir ihm eine Maske aufsetzen, geht er wahrscheinlich an die Decke«, sagte die Frau.
»Ich gebe ihm was.«
Jetzt sah Pierce den Mann. Er kam in sein Blickfeld, als er mit einer in einem Handschuh steckenden Hand eine Spritze hob und kurz etwas in die Luft sprühte. Als Nächstes spürte Pierce einen Stich in seinem Arm und wenig später strömten Wärme und Verständnis durch seinen Körper und liefen kitzelnd über seinen Brustkorb. Er lächelte und musste fast lachen. Wärme und Verständnis aus einer Spritze. Die Segnungen der Chemie. Er hatte die richtige Wahl getroffen.
»Extra Gurte«, sagte die Frau. »Wir nehmen ihn senkrecht.«
Was immer das bedeutete. Pierces Augen schlossen sich. Das Letzte, was er sah, bevor er in die Wärme abdriftete, war ein Polizist, der über ihm stand.
»Kommt er durch?«, fragte er.
Pierce hörte die Antwort nicht.
Als er das nächste Mal wieder zu Bewusstsein kam, stand er. Aber nicht richtig. Er öffnete die Augen, und alle waren da, er war dicht von ihnen umringt. Die Frau mit der Lampe und der Mann mit der Spritze. Und der Polizist. Und Nicole war auch da. Sie schaute mit Tränen in ihren dunkelgrünen Augen zu ihm hoch. Selbst so war sie schön für ihn, ihre Haut braun und glatt, ihr Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, die blonden Strähnen schimmernd.
Der Aufzug begann nach unten zu fahren, und plötzlich dachte Pierce, er müsste sich übergeben. Er versuchte eine Warnung hervorzustoßen, aber er konnte seinen Unterkiefer nicht bewegen. Es war, als wäre er fest an die Wand gebunden. Er versuchte angestrengt, sich zu bewegen, aber es ging nicht. Er
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