Jack Reacher 01: Größenwahn
nirgendwo hält. Auch wenn es gute Gründe gäbe zu bleiben. Für Leute wie mich. Ich war jetzt praktisch seit einer Woche in Margrave. Länger war ich freiwillig nirgendwo geblieben. Ich sollte für immer bleiben. Bei Roscoe, weil sie gut für mich war. Ich fing langsam an, mir eine Zukunft mit ihr vorzustellen. Es fühlte sich gut an.
Aber es würde Probleme geben. Wenn es Kliners schmutziges Geld nicht mehr gab, würde die gesamte Stadt auseinanderfallen. Es würde keine Stadt mehr geben, in der man bleiben konnte. Und ich mußte weiter. Wie in dem Song, den ich im stillen vor mich hinsang. Ich mußte umherziehen. Ein traditioneller Song. Ein Song, der wie für mich gemacht war. Insgeheim war ich überzeugt, daß Blind Blake ihn geschaffen hatte. Er war herumgezogen. Er war genau an diesem Ort vorbeigezogen, als die Betonpfeiler noch alte, schattenspendende Bäume gewesen waren. Vor sechzig Jahren war er die Straße entlanggegangen, die ich jetzt beobachtete, und hatte vielleicht den Song gesungen, den ich jetzt sang.
Joe und ich hatten früher oft diesen alten Song gesungen. Wir nahmen ihn als einen ironischen Kommentar auf das Leben einer Familie in der Army. Wir stiegen irgendwo aus einem Flugzeug und fuhren zu einem stickigen, leeren Haus auf dem Stützpunkt. Zwanzig Minuten, nachdem wir eingezogen waren, stimmten wir diesen Song an. Als wären wir jetzt lange genug da und bereit weiterzuziehen. Also lehnte ich mich jetzt an den Betonpfeiler und sang den Song für ihn und für mich.
Ich brauchte fünfunddreißig Minuten, um jede Version dieses alten Songs durchzugehen, immer einmal für mich und einmal für Joe. Während dieser Zeit sah ich vielleicht ein halbes Dutzend Lkws auf die Zufahrtsstraße zu den Lagerhäusern einbiegen. Alles Wagen aus der Gegend. Alles kleine, staubige Transporter aus Georgia. Keiner mit dem typischen Langstreckendreck überzogen. Keiner steuerte das letzte Gebäude an. Ich sang fünfunddreißig Minuten vor mich hin und bekam keine einzige neue Information.
Aber ich bekam etwas Applaus. Als ich den letzten Song beendet hatte, hörte ich, wie hinter mir aus der Dunkelheit heraus leise geklatscht wurde. Ich schnellte um den breiten Betonpfeiler herum und starrte angestrengt ins Dunkel. Das Klatschen hörte auf, und ich nahm ein schlurfendes Geräusch wahr. Erkannte undeutlich den Umriß eines Mannes, der auf mich zukam. Der Umriß konkretisierte sich. Zu einer Art Landstreicher. Mit langem, grauem, verfilztem Haar und mehreren Schichten schwerer Kleidung. Mit hellen Augen, die in einem zerfurchten, schmutzigen Gesicht glühten. Der Mann blieb außerhalb meiner Reichweite stehen.
»Wer zum Teufel sind Sie?« fragte ich ihn.
Er stieß seinen Vorhang von Haaren beiseite und grinste mich an.
»Wer zum Teufel sind Sie?« fragte er zurück. »Daß Sie sich auf meinem Platz breitmachen und derartig jaulen?«
»Dies ist Ihr Platz? Sie leben hier?«
Er hockte sich hin und sah mich achselzuckend an.
»Zeitweise«, sagte er. »Ich bin seit einem Monat hier. Was dagegen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nichts dagegen. Der Mann mußte ja schließlich irgendwo leben.
»Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe. Heute abend bin ich schon wieder weg.«
Sein Geruch zog zu mir herüber. Nicht sehr angenehm. Dieser Typ roch, als hätte er sein ganzes Leben auf der Straße verbracht.
»Bleiben Sie, so lange Sie wollen«, sagte er. »Wir haben gerade beschlossen weiterzuziehen. Wir räumen das Gelände.«
»Wir?« fragte ich. »Ist noch jemand hier?«
Der Typ sah mich merkwürdig an. Wandte sich um und wies in die Luft neben sich. Da war niemand. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich konnte die gesamte Strecke bis zum Betonträger unter der erhöhten Straße überblicken. Da war nichts.
»Meine Familie«, sagte er. »Erfreut, Sie kennenzulernen. Aber wir müssen gehen. Zeit, weiterzuziehen.«
Er langte hinter sich und zog einen Segeltuchsack aus der Dunkelheit. Von der Army. Ein verblichener Aufdruck war darauf. Pfc nochwas, dann eine Seriennummer und die Bezeichnung einer Einheit. Er zog ihn hinter sich her und schlurfte davon.
»Warten Sie«, sagte ich. »Waren Sie auch letzte Woche hier? Donnerstag?«
Der Mann blieb stehen und wandte sich halb um.
»Ich bin hier seit einem Monat. Letzten Donnerstag habe ich nichts gesehen.«
Ich sah ihn und seinen Segeltuchsack an. Ein Soldat. Soldaten melden sich niemals freiwillig. Das ist ihre Grundregel. Also löste ich
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