Jack Reacher 01: Größenwahn
Ich fragte mich, wie er die Scheiben des Bentley hinbekommen würde. Fragte mich, was Charlie sagen würde, wenn sie ihr Auto mit schwarzen Scheiben zurückbekäme. Wahrscheinlich würde das ihre kleinste Sorge sein. Wir fuhren weiter.
Wir fuhren fast vierhundert Meilen weit. Acht Standen. Wir fuhren aus Georgia hinaus, direkt durch Alabama in die nordöstliche Ecke von Mississippi. Es wurde stockdunkel. Die Herbstsonne war vor unseren Augen versunken. Die Leute hatten ihre Lichter eingeschaltet. Wir fuhren stundenlang durch die Dunkelheit. Ich fühlte mich, als hätte ich den Mann schon mein ganzes Leben lang verfolgt. Dann, gegen Mitternacht, wurde der rote Lkw langsamer. Eine halbe Meile vor mir sah ich, wie er mitten im Nirgendwo auf einen Rastplatz abbog. In der Nähe eines Ortes namens Myrtle. Vielleicht gerade mal sechzig Meilen vor der Grenze von Tennessee. Vielleicht knapp siebzig Meilen von Memphis entfernt. Ich folgte dem Truck auf den Parkplatz. Stoppte in einiger Entfernung.
Ich sah, wie der Fahrer ausstieg. Ein großer, gedrungener Typ. Muskulöser Nacken und breite, kräftige Schultern. Dunkel, Anfang, Mitte dreißig. Lange Arme wie ein Affe. Ich wußte, wer das war. Der Sohn von Kliner. Der eiskalte Psychopath. Ich beobachtete ihn. Er streckte sich und gähnte in der Dunkelheit neben seinem Truck. Ich starrte ihn an und stellte mir vor, wie er Donnerstag nacht am Lagerhaustor getanzt hatte.
Der Kliner-Sohn schloß den Lkw ab und schlenderte auf die Gebäude zu. Ich wartete einen Moment und folgte ihm dann. Ich überlegte, daß er wahrscheinlich direkt zu den Toiletten gegangen war, also lungerte ich in dem hellen Neonlicht am Zeitungsstand herum und beobachtete die Tür. Ich sah, wie er herauskam, und beobachtete, wie er ins Restaurant schlenderte. Er setzte sich an einen Tisch und streckte sich erneut. Nahm die Speisekarte mit der zugänglichen Miene eines Mannes, der sich Zeit nimmt. Er wollte hier ein spätes Abendessen. Ich schätzte, er würde fünfundzwanzig Minuten brauchen. Vielleicht eine halbe Stunde.
Ich ging zurück zum Parkplatz. Ich wollte den roten Lkw aufbrechen und einen Blick hineinwerfen. Aber ich sah, daß ich keine Chance hatte, das auf dem Parkplatz zu machen. Nicht die geringste Chance. Überall liefen Leute herum, und ein paar Streifenwagen fuhren umher. Der ganze Platz war hell erleuchtet. Wenn ich in diesen Lkw einbrechen wollte, mußte ich warten.
Ich ging zurück zu den Gebäuden. Zwängte mich in eine Telefonzelle und wählte die Nummer vom Polizeirevier in Margrave. Finlay nahm selbst ab. Ich hörte seine dunkle Harvard-Stimme. Er hatte am Telefon darauf gewartet, daß ich mich meldete.
»Wo sind Sie?«
»Nicht weit von Memphis entfernt. Ich habe beobachtet, wie ein Lkw beladen wurde, und hänge mich an ihn, bis ich einen Blick hineinwerfen kann. Der Fahrer ist der Sohn von Kliner.«
»Okay«, sagte er. »Ich habe Neuigkeiten von Picard. Roscoe ist sicher untergebracht. Wenn sie schlau ist, geht sie schnell ins Bett. Er sagt, sie grüßt Sie mit all ihrer Liebe.«
»Bestellen Sie ihr dasselbe, wenn Sie können, und passen Sie auf sich auf, Harvard-Mann.«
»Ebenso«, sagte er. Legte auf.
Ich ging zurück zum Cadillac. Stieg ein und wartete. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bevor der Kliner-Sohn herauskam. Ich sah, wie er zum roten Lkw zurücklief. Er wischte sich seinen Mund mit dem Handrücken ab. Sah aus, als hätte er ein gutes Abendessen gehabt. Lange genug hatte er ja gebraucht. Er ging außer Sichtweite. Eine Minute später rumpelte der Truck vorbei und bog auf die Ausfahrt. Aber Kid fuhr nicht zum Highway zurück. Er bog nach links in eine Einfahrt ein. Er fuhr zum Motel hinüber. Er würde über Nacht bleiben.
Er steuerte direkt zu der Reihe der Motelzimmer. Parkte den roten Lkw vor der vorletzten Tür. Direkt im Schein einer großen Laterne. Er stieg aus und schloß ab. Nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete das Zimmer. Ging hinein und schloß die Tür. Ich sah, wie das Licht anging und die Jalousie heruntergezogen wurde. Er hatte den Schlüssel in seiner Tasche gehabt. Er war nicht zur Rezeption gegangen. Er mußte das Zimmer gleich nach dem Abendessen bestellt haben. Er hatte dafür bezahlt und den Schlüssel bekommen. Deshalb war er so verdammt lange da drin gewesen.
Jetzt hatte ich ein Problem. Ich mußte in den Wagen hineinsehen. Ich mußte den Beweis haben. Ich mußte wissen, ob ich recht hatte. Und ich mußte es bald wissen.
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