Jack Reacher 01: Größenwahn
mich vom Betonpfeiler und zog einen Schokoriegel aus meiner Tasche. Wickelte ihn in eine Hundertdollarnote. Warf das Ganze zu ihm hinüber. Er fing es auf und steckte es sich in den Mantel. Nickte schweigend zu mir herüber.
»Also was haben Sie letzten Donnerstag nicht gesehen?« fragte ich ihn.
Er zuckte die Schultern.
»Ich habe überhaupt nichts gesehen. Das ist die volle Wahrheit. Aber meine Frau hat etwas gesehen. Sogar eine ganze Menge.«
»Okay«, sagte ich langsam. »Würden Sie sie fragen, was sie gesehen hat?«
Er nickte. Drehte sich um und flüsterte mit der Luft neben sich. Drehte sich wieder zu mir um.
»Sie hat Außerirdische gesehen. Ein feindliches Raumschiff, getarnt als glänzend schwarzer Lieferwagen. Zwei Außerirdische, die sich als normale Menschen verkleidet hatten. Sie sah Lichter am Himmel. Rauch. Ein Raumschiff kam herunter, wurde zu einem großen Wagen, ein Commander der Sternenflotte in der Uniform eines Cops stieg aus, ein kleiner, fetter Typ. Dann kam ein weißer Wagen vom Highway, aber in Wirklichkeit war das ein Starfighter im Landeanflug, mit zwei Männern darin, richtigen Menschen, Pilot und Copilot. Sie alle veranstalteten einen Tanz, da unten am Tor, weil sie aus einer anderen Galaxie kamen. Sie sagt, es war aufregend. Sie liebt dieses Zeug. Sieht es überall, wo sie hinkommt.«
Er nickte mir zu. Glaubte, was er sagte.
»Ich habe das Ganze verpaßt.« Wies auf die Luft neben sich. »Das Baby mußte gebadet werden. Aber meine Frau hat's gesehen. Sie liebt dieses Zeug.«
»Hat sie irgendwas gehört?« fragte ich ihn.
Er fragte sie. Bekam ihre Antwort und schüttelte den Kopf, als wäre ich verrückt.
»Wesen aus dem All machen keine Geräusche«, sagte er. »Aber der Copilot vom Starfighter wurde mit einem Phaser angeschossen, kroch später hierher. Verblutete genau da, wo Sie jetzt stehen. Wir versuchten, ihm zu helfen, aber gegen Phaser kann man nichts machen, oder? Die Ärzte holten ihn Sonntag ab.«
Ich nickte. Er schlurfte davon und zog seinen Sack hinter sich her. Ich sah ihm eine Zeitlang nach und glitt dann wieder um den Pfeiler herum. Beobachtete die Straße. Ging die Geschichte seiner Frau durch. Ein Augenzeugenbericht. Den Obersten Gerichtshof hätte der Typ nicht überzeugt, aber mich schon, soviel war sicher. Es war ja auch nicht der Bruder eines Richters am Obersten Gerichtshof, der mit einem Starfighter gelandet war und einen Tanz am Lagerhaustor aufgeführt hatte.
Es dauerte eine weitere Stunde, bis etwas passierte. Ich hatte einen Schokoriegel gegessen und fast einen halben Liter Wasser getrunken. Ich hatte mich gerade zum Warten hingesetzt. Da kam ein ziemlich großer Lkw von Süden herein. Er verlangsamte auf der Zufahrt zum Lagerhaus. Ich sah die Aufschrift eines New Yorker Transportunternehmens durch das Fernglas. Schmutzigweiße Rechtecke. Der Lkw fuhr über die Zufahrt und wartete am vierten Tor. Die Männer auf dem Gelände öffneten die Zufahrt und winkten den Lkw hindurch. Er blieb wieder stehen, und die beiden Männer schlossen das Gitter hinter ihm. Dann setzte der Fahrer zum Rolltor zurück und hielt. Stieg aus dem Truck. Einer der Wächter stieg hinein, und der andere ging durch eine Seitentür in den Schuppen und kurbelte das Tor hoch. Der Lkw fuhr rückwärts in die Dunkelheit, und die Rolltür kam wieder herunter. Der Fahrer wurde auf dem Vorhof zurückgelassen und reckte sich in der Sonne. Das war alles. Hatte ungefähr dreißig Sekunden gedauert, vom Anfang bis zum Ende.
Ich beobachtete das Gelände und wartete. Der Lkw war achtzehn Minuten im Lagerhaus. Dann wand sich das Rolltor wieder nach oben, und der Wächter fuhr den Truck heraus. Sobald er draußen war, kam das Tor wieder herunter, und der Wächter sprang aus der Fahrerkabine. Der Mann aus New York hievte sich auf den Sitz, während der Wächter nach vorn lief, um die Einfahrt zu öffnen. Der Truck fuhr hindurch und rumpelte zurück auf die Landstraße. Er steuerte nach Norden und fuhr in einer Entfernung von zwanzig Metern an der Stelle vorbei, wo ich an dem Betonpfeiler der Überführung lehnte. Er bog in die Auffahrt ein und fuhr dröhnend hinauf, um sich in den Verkehrsfluß nach Norden einzufädeln.
Nur kurz danach fuhr ein weiterer Lkw rumpelnd die Abfahrt hinunter, verließ den Verkehrsstrom, der von Norden kam. Es war ein ähnlicher Truck. Dieselbe Marke, dieselbe Größe, derselbe Schmutz vom Highway. Er fuhr holpernd auf die Zufahrtsstraße zu den Lagerhäusern. Ich
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