Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Sein Vorsitzender war ein guter Freund meines Vaters, was vermutlich nicht geschadet hat.«
»Wie reagierte Victor darauf?«
»Das hat ihn nicht weiter gestört. Deswegen gab’s keinen Streit. Ich war kein Kriegsgegner oder so etwas. Ich habe den amerikanischen Einsatz in Vietnam genauso unterstützt wie alle anderen. Das war nur meine persönliche Entscheidung zwischen einer Sache von gestern und einer von morgen. Ich wollte die von morgen. Victor wollte zur Army Er hat natürlich gewusst, dass dieser Weg, na ja, etwas bieder war. Tatsächlich hat Victors Vater die Entscheidung des Jungen ziemlich stark beeinflusst. Er war im Zweiten Weltkrieg nur bedingt tauglich gewesen. Mein Vater hat als Infanterist im Pazifik gekämpft. Victor meinte, seine Familie habe nicht genug geleistet. Deshalb hat er’s für seine Pflicht gehalten, nach Vietnam zu gehen. Das klingt heutzutage spießig, oder? Pflichterfüllung? Aber so haben wir damals eben gedacht. Kein Vergleich zur Denkweise der Kids von heute. Wir waren ziemlich ernsthaft und altmodisch, Victor vielleicht etwas mehr als wir anderen. Sehr ernsthaft, sehr pflichtbewusst. Aber nicht wirklich aus dem Rahmen fallend.«
Reacher hatte drei Viertel der Säcke in den Schuppen geschleppt. Er machte eine Pause und lehnte sich an die Fahrertür des Pick-up. »War er intelligent?«
»Durchschnittlich, denke ich«, antwortete Steven. »Er war in der Schule gut, aber nicht herausragend. Wir hatten im Lauf der Jahre ein paar Kinder an der Schule, die später Anwälte, Ärzte oder dergleichen geworden sind. Einer, etwas jünger als Victor und ich, ist zur NASA gegangen. Victor war intelligent, aber er musste für seine Noten was tun, daran erinnere ich mich noch.«
Reacher schleppte weiter Säcke. Er war froh, dass er die hintersten Regale zuerst gefüllt hatte, weil seine Arme jetzt langsam weh taten.
»Hat er jemals Ärger mit der Polizei gehabt?«
Steven starrte ihn ungeduldig an. »Ärger mit der Polizei? Sie haben mir nicht zugehört, Mister. Victor war ein grundanständiger Junge - und das in einer Zeit, deren schlimmste Kids heutzutage wie die Engel aussehen würden.«
Noch sechs Zementsäcke. Reacher wischte sich die Handflächen an der Hose ab.
»Wie war er, als Sie ihn zuletzt gesehen haben? Zwischen seinen beiden Dienstzeiten in Vietnam?«
Steven überlegte. »Gealtert, würde ich sagen. Ich war ein Jahr älter geworden, Victor hat fünf Jahre älter gewirkt. Trotzdem hatte er sich nicht verändert. Weiterhin ernsthaft, weiterhin pflichtbewusst. Als er hier war, wurde zu seinen Ehren ein Festzug veranstaltet, weil er einen Orden bekommen hatte. Victor war wirklich verlegen, hat immer wieder gesagt, sein Orden sei nicht der Rede wert. Dann ist er fortgegangen und nie wieder aufgetaucht.«
»Wie war Ihnen dabei zu Mute?«
Wieder eine nachdenkliche Pause. »Ich war ziemlich betroffen, glaube ich. Schließlich hatte ich ihn mein ganzes Leben lang gekannt. Mir war’s natürlich lieber gewesen, wenn er heimgekehrt wäre, aber ich war froh, dass er nicht wie so viele im Rollstuhl oder noch schlimmer verwundet zurückgekommen ist.«
Reacher war mit dem Abladen fertig und lehnte sich an den Torpfosten gegenüber von Steven.
»Was ist mit dem Geheimnis? Mit seinem geheimnisumwitterten Verschwinden?«
Steven schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Da gibt’s kein Geheimnis. Victor ist gefallen. Hier geht’s nur um zwei alte Leute, die sich weigern, drei unangenehme Wahrheiten zu akzeptieren, das ist alles.«
»Und die wären?«
»Ganz einfach«, sagte Steven, »die Wahrheit Nummer eins ist, dass ihr Junge nicht mehr lebt. Die Wahrheit Nummer zwei ist, dass er in irgendeinem gottverlassenen, undurchdringlichen Dschungel gestorben ist, wo ihn kein Mensch jemals finden wird. Die Wahrheit Nummer drei ist, dass die Regierung damals zu schummeln begonnen und aufgehört hat, Vermisste als Verluste zu melden, damit die Zahlen nicht allzu hoch wurden. Das waren in diesem Fall - wie viele? Als Victors Hubschrauber abgeschossen wurde, waren vielleicht zehn Mann an Bord. Zehn Namen, die nicht in den Abendnachrichten erwähnt wurden. Das war damals offizielle Politik, was heute niemand mehr eingestehen will.«
»Das ist Ihre Überzeugung?«
»Allerdings«, erwiderte Steven. »Das Kriegsglück hat uns verlassen, und gleichzeitig hat die Regierung Zuflucht zu Lügen genommen. Für meine Generation war das schwer zu akzeptieren. Ihr Jüngeren seid so was vielleicht eher
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