Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
da bin ich mir ganz sicher. Er ist nur heute hier und muss am Abend wieder nach Chicago zurückfliegen.«
»Also gut, bring ihn rüber. Ich erwarte euch.«
Marilyn legte den Hörer auf, lief in die Küche und schaltete den Backofen ein. Kippte ein Häufchen Kaffeebohnen auf eine Untertasse und stellte sie aufs mittlere Blech. Dann warf sie das Kerngehäuse ihres Apfels in den Mülleimer und stellte den benutzten Teller in die Spülmaschine. Ließ Wasser in den Ausguss laufen, wischte ihn mit Küchenkrepp sauber und trat dann zurück, um den Raum zu inspizieren. Sie ging ans Fenster und verstellte die Jalousie etwas, damit Sonnenlicht auf die glänzend polierten Fliesen fiel.
»Perfekt«, sagte sie zu sich selbst.
Sie lief wieder die Treppe hinauf und fing mit dem Obergeschoss an. Nahm sich ein Zimmer nach dem anderen vor, begutachtete, kontrollierte, rückte Vasen zurecht, verstellte Jalousien, schüttelte Kissen auf. Und sie machte überall Licht. Irgendwo hatte sie gelesen, erst in Anwesenheit des Käufers eingeschaltete Lampen signalisierten, das Haus sei düster. Sie sollten deshalb schon vorher brennen, um zu vermitteln, dass der Interessent willkommen sei.
Dann rannte sie wieder nach unten. Im Familienzimmer zog sie die Jalousien hoch, damit der Pool richtig zur Geltung kam. Im Arbeitszimmer schaltete sie die Leselampen ein und schloss die Jalousie fast ganz, damit der Raum behaglich wirkte. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Scheiße, Chesters Beistelltisch stand noch dort, wo sein Sessel sich befunden hatte. Sie hob ihn hoch und eilte damit zur Kellertreppe. Draußen knirschten Reifen über den Kies. Sie riss die Kellertür auf, lief die Treppe hinunter, stellte den Tisch ab, hastete wieder nach oben, schloss die Kellertür und verschwand auf der Toilette. Strich das Gästehandtuch glatt, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und betrachtete sich im Spiegel. Gott! Sie trug ihr Seidenkleid. Mit nichts darunter. Das feine Gewebe klebte an ihrem Körper. Was zum Teufel würde dieser arme Mensch von ihr denken?
Das Schrillen der Türklingel. Marilyn stand wie erstarrt. Hatte sie noch Zeit, sich umzuziehen? Natürlich nicht. Sie waren da, warteten vor der Haustür und klingelten. Wenigstens eine Jacke oder irgendwas? Wieder ein Klingeln. Sie atmete tief durch, wackelte mit den Hüften, damit die Seide lockerer fiel, und ging den Flur entlang. Holte erneut tief Luft und öffnete die Haustür.
Sheryl strahlte sie an, aber Marilyn hatte nur Augen für den Interessenten. Er war ziemlich groß, Anfang bis Mitte fünfzig, grauhaarig, trug einen dunklen Anzug und stand halb zur Seite gedreht da, als begutachte er die Stauden entlang der Einfahrt. Sie warf einen Blick auf seine Schuhe, weil Chester immer sagte, Wohlstand und gute Kinderstube zeigten sich an den Füßen. Die hier sahen ziemlich gut aus. Schwere, auf Hochglanz polierte Oxfords. Marilyn lächelte. War das möglich? Binnen sechs Stunden verkauft? Das wäre ein toller Erfolg. Sie wechselte rasch einen Verschwörerblick mit Sheryl, dann wandte sie sich dem Mann zu.
»Bitte kommen Sie herein«, sagte sie herzlich und streckte ihm die Hand hin.
Er wandte sich ihr langsam zu, starrte sie an, ganz offen und unverhohlen. Unter seinem Blick fühlte sie sich nackt. Sie war praktisch nackt. Aber sie starrte ihn ebenfalls an, weil eine Hälfte seines Kopfs mit leuchtend rosa Brandnarben bedeckt war. Marilyns Lächeln gefror zu einer Grimasse, sie ließ aber weiterhin ihre Hand ausgestreckt. Er schien kurz zu zögern, hob dann seine Hand, als wolle er die ihre erfassen. Aber das war keine Hand, sondern ein glänzender Metallhaken. Keine künstliche Hand, keine kunstvolle Prothese, nur ein schrecklicher Haken aus blankem Stahl.
Reacher hielt um achtzehn Uhr fünfzig am Randstein vor dem sechzigstöckigen Gebäude in der Wall Street. Er ließ den Motor laufen und suchte mit den Augen einen Bereich ab, dessen Spitze am Ausgang des Gebäudes lag und der sich nach beiden Seiten so weit über die Plaza erstreckte, wie die Gefahrenzone reichte, in der jemand sie vor ihm erreichen konnte. In diesem Dreieck hielt sich niemand auf, der ihn beunruhigte. Niemand, der dort herumlungerte, niemand, der die Drehtür beobachtete; nur ein dünner Strom von Angestellten, die mit Jacketts oder Kostümjacken über dem Arm und schweren Aktenkoffern in der Hand aus dem Gebäude kamen. Die meisten bogen nach links ab, um zur U-Bahn zu gehen. Manche traten zwischen die am Randstein
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