Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
sehen konnte. Hoch über ihm spannte sich die Brooklyn Bridge. Er wandte sich nach Norden und folgte einer schmalen Gasse hinter den Gebäuden. Zählte elf an ihren Rückseiten angebrachte eiserne Feuertreppen und sah die schwarze Limousine, die in einer engen Lücke neben dem elften Hintereingang parkte. Auf dem Kofferraumdeckel saß ein Junge von achtzehn oder neunzehn Jahren mit einem Handy in der Hand. Als Bewacher des Hintereingangs stand er auf der Karriereleiter eine Stufe höher als seine kleinen Brüder, die vorn über den Gehsteig flitzten.
Sonst war niemand zu sehen. Der Junge war auf sich allein gestellt. Für Reacher kam es jetzt darauf an, schnell zu gehen und sich scheinbar auf etwas weit jenseits der Zielperson zu konzentrieren. Der Typ musste den Eindruck haben, er werde kaum wahrgenommen. Reacher sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. Er ging eilig, rannte fast. Den Wagen beachtete er erst im letzten Augenblick, als werde er durch ihn plötzlich in die Gegenwart zurückgeholt. Der Junge beobachtete ihn. Reacher wich nach links aus, obwohl er wusste, dass er dort nicht an der Limousine vorbeikommen würde. Dann blieb er irritiert stehen und machte mit der angestauten Wut eines Mannes, der es eilig hat und durch ein lästiges Hindernis aufgehalten wird, auf dem Absatz kehrt. Aus dieser Bewegung heraus traf sein linker Arm den Jungen seitlich am Kopf. Als der Junge wegkippte, verpasste er ihm einen verhältnismäßig sanften rechten Haken. Schließlich wollte er ihn nicht gleich krankenhausreif schlagen.
Er ließ ihn vom Kofferraumdeckel fallen, ohne ihn aufzufangen, weil er sehen wollte, ob er wirklich außer Gefecht war. Wer bei Bewusstsein ist, versucht immer, seinen Sturz etwas abzumildern. Das tat dieser Junge nicht. Er schlug mit dumpfem Aufprall aufs Pflaster. Reacher drehte ihn auf den Rücken und durchsuchte seine Taschen. Der Junge besaß eine Waffe, aber die war nichts, was er triumphierend hätte vorzeigen können. Eine chinesische Kleinkaliberpistole, vermutlich ein Nachbau eines russischen Nachbaus einer Waffe, die von Anfang an wertlos gewesen war. Er beförderte sie mit einem Tritt außer Reichweite unter den Wagen.
Reacher wusste, dass die Hintertür des Mietshauses unverschlossen sein würde, denn das war der Zweck eines Hinterausgangs, wenn man etwa hundertfünfzig Meter südlich der Police Plaza einen schwunghaften Drogenhandel betrieb. Kommen sie vorn herein, muss man durch die Hintertür abhauen können, ohne nach dem Schlüssel fummeln zu müssen. Er stieß sie mit der Fußspitze auf und warf einen Blick ins Halbdunkel des Flurs. Rechts vor sich erkannte er eine Tür, unter der sich ein heller Streifen Licht abzeichnete. Bis dorthin waren es ungefähr zehn Schritte.
Hier zu warten, war zwecklos. Dort würde niemand herauskommen, um zum Abendessen zu gehen. Er setzte sich in Bewegung, machte zehn Schritte und blieb an der Tür stehen. Das Gebäude stank nach Verfall, Schweiß und Urin. Es war auffällig still. Ein unbewohntes Gebäude. Reacher horchte. Aus dem Raum war eine halblaute Stimme zu hören. Dann antwortete jemand. Also mindestens zwei Männer.
Die Tür aufzustoßen und dazustehen, um sich ein Bild von der Situation zu machen, ist nicht die richtige Methode. Der Kerl, der auch nur eine Sekunde zögert, ist derjenige, der früher stirbt. Nach Reachers Schätzung war das Gebäude rechts und links des Korridors, in dem er stand, vier bis fünf Meter breit. Also würde er die wenigen Meter in den Raum hineinstürmen, bevor die Männer überhaupt begriffen, was da geschah. Sie würden die Tür anstarren und sich fragen, ob noch weitere Eindringlinge folgten.
Er holte tief Luft und katapultierte sich durch die Tür, als sei sie überhaupt nicht da. Sie knallte an die Wand, und Reacher durchquerte den Raum mit drei, vier riesigen Schritten. Trübes Licht. Eine einzelne nackte Glühbirne. Zwei Männer. Drogenbriefchen auf dem Tisch, Geld und eine Schusswaffe. Er traf den ersten Kerl mit einem gewaltigen Schlag genau an der Schläfe. Der Mann fiel zur Seite, und Reacher setzte ihn mit einem Kniestoß in den Unterleib außer Gefecht, während er zu dem zweiten Kerl unterwegs war, der mit vor Angst geweiteten Augen und aufgerissenem Mund von seinem Stuhl aufstehen wollte. Reacher traf ihn mit seinem Unterarm genau zwischen Augenbrauen und Haaransatz. Wurde der Schlag kräftig genug geführt, war der Betroffene eine halbe Stunde lang bewusstlos, aber sein Schädel blieb heil.
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