Jade-Augen
Schuhe ihnen nur kaum Schutz vor dem tiefen, die Ebene bedeckenden Schnee boten. Den Kavalleristen erging es etwas besser, und Annabel, die auf Charlies Rücken saß, erkannte das wettergegerbte Gesicht des Rissaldar, der seine eigene Abteilung befehligte. Sie dachte an die Stunden in der Reitschule und fragte sich, ob der Rissaldar sich wohl ebenfalls an sie erinnerte, während er jetzt unter den schlaff herabhängenden Bannern, die die brütenden Vorahnungen, in die der ganze Zug eingehüllt war, zu veranschaulichen schienen, aus dem Kantonnement zog.
»Wir reiten mit der Hauptabteilung unter Shelton, die sich in Bewegung setzt, sobald die Vorhut vorbei ist.« Kits Ton klang barsch, als er zu ihr kam, aber sie nahm es ihm nicht übel. »Die Frauen, Verwundeten und Kranken werden ebenfalls in der Hauptabteilung sein, aber du kannst mit mir in der vordersten Reihe reiten. Ich bin Elphinstone als Stabsoffizier zugeteilt. Jeder im Hauptquartier kennt dich, also wird niemand Anstoß nehmen.«
»Weniger, als wenn ich mit den Damen reiten würde«, bemerkte Annabel trocken. »Ich bin sicher, ihnen wäre ich kaum willkommen.«
»Wahrscheinlich nicht, aber bei unserer augenblicklichen Lage wäre auch das unwichtig. Entscheidender ist, daß Charlie dich gut trägt, auch wenn er etwas mager ist, dieser Tage.« Kit beugte sich vor und klopfte dem Tier auf den Hals, als ob die Geste ihm seine Schuldgefühle angesichts des stummen Leidens des Tieres nehmen könnte. »Er wird sich bei den Kavalleriepferden geborgener fühlen als bei den Kamelen und Ponys.«
Bob kam herzu, er sah blaß und übernächtigt aus. »Haben wir das nicht geahnt? Die verdammte Notbrücke über den Fluß, die die Pioniere bauen sollten, ist noch nicht an Ort und Stelle. Der Vormarsch muß am Ufer zum Stillstand kommen. Gott allein weiß, wie lange es dauern wird, bis wir hinüber können.«
Annabel blickte zurück auf die brodelnde Szene. Kamele hoben an ihren langen Hälsen verzagt die Köpfe. In ihren Howdahs saßen Offiziersfrauen mit ihren Kindern, die Träger zitterten in der eisigen Luft und stampften mit den Füßen auf den kalten Boden. Diese Sänften verstopften den Exerzierplatz, ihre Träger schrien einander an, die darin befindlichen Frauen beugten sich heraus und gaben widersprüchliche Befehle. Kinder weinten und jammerten aus Angst, Verwirrung und vor Kälte. Auf den Platz ergossen sich die spärlich gekleideten Zivilisten und gerieten Tieren wie Soldaten zwischen die Beine; sie allein waren zwölftausend an der Zahl und konnten nicht dazu gezwungen werden, sich in der Nachhut bei dem Gepäck einzuordnen, sondern bestanden auf einem Platz in der Hauptabteilung. Das scharfe Knallen von Lederpeitschen, das erbitterte Brüllen der Offiziere, das Wiehern der Pferde, Schreien und Schimpfen von allem und jedem ergaben einen Höllenlärm, der nach Chaos und Verzweiflung klang.
Sie blickte Kit an und schüttelte ihren Kopf in blanker Hilflosigkeit.
»Ich weiß«, sagte er. »Es gibt keine Hoffnung.«
»Nicht die geringste.«
»He, weniger Schwarzseherei, wenn ich bitten darf!« Bob versuchte einen scherzhaften Ton anzuschlagen, aber der Schatten seines eigenen Wissens gab seiner Stimme einen dumpfen Unterton. »Der General ist so schwach, daß ich mich frage, ob er sich auf seinem Pferd halten kann«, sagte er und gab den Versuch zu scherzen auf. »Reitest du mit ihm?«
»Ja. Für den Fall, daß es nicht gutgeht, haben wir eine Sänfte vorbereitet. Es wird uns aufhalten, aber ich glaube sowieso nicht, daß Geschwindigkeit an der Tagesordnung sein wird. Annabel, ist dir warm genug?«
Das hörte sich ein wenig lächerlich an, war es aber nicht.
»Mir ist wärmer als den meisten«, antwortete sie und dachte, dank Akbar Khan. Ihre Lederhosen waren mit Kaschmirwolle gefüttert, die Jacke mit Pelz, und über Hose und Jacke trug sie ihren pelzgefütterten Kapuzenmantel. Handschuhe und Stiefel waren ebenfalls pelzgefüttert. Sie war viel besser geschützt als Kit und seine Kameraden und deutlich besser dran als die große Mehrheit jener, welche die Reise auf sich nahmen. Aber sie war ja auch afghanisch gekleidet, wie jemand, der sein Leben in diesem ungastlichen Land zubrachte und mit seiner Rauhheit vertraut war. Akbar Khan hatte nicht beabsichtigt, sie diese Reise schlecht vorbereitet antreten zu lassen …
»Sie brechen auf«, sie schüttelte ihre Verzagtheit ab. »Sollen wir uns dem General anschließen, Kit?«
Als sie den Ort durch den
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