Jade-Augen
breiten Durchgang, den die Pioniere geschaffen hatten, verließen, strömte eine triumphierende Menge aus der Stadt in das Kantonnement, dessen Evakuierung noch nicht abgeschlossen war. »Allmächtiger«, murmelte Kit. »Sie können nicht einmal warten, bis wir draußen sind, bevor sie sich über unsere Überbleibsel hermachen.«
Frohlockende Rufe füllten die Luft und bildeten einen schaurigen Kontrast zu dem grimmigen Schweigen der abziehenden Scharen; aus den Wohnbereichen des Kantonnements schossen bereits Flammen empor, als die Sieger die Bungalows erst plünderten und dann in Brand steckten, bis die rührend getreue Nachbildung eines englischen Dorfes zu Asche zerfallen war.
Weit nach Mittag überquerten die ersten Reihen der Hauptabteilung die Behelfsbrücke hinter der Vorhut. Hinter ihnen war die Nachhut zwischen den Wällen und dem Kanal eingeklemmt und bot der langen Prozession von Kamelen, die langsam das Kantonnement verließen, so weit wie möglich Schutz. Gepäck, welches bereits als zu lästig zurückgelassen worden war, nachdem sich die Wirklichkeit des eisigen Marsches zeigte, lag aufgetürmt vor den Wällen und verschwand schnell unter dem dicht fallenden Schnee. Innerhalb des Kantonnements ging das Plündern und Zerstören, begleitet von den gellenden Schreien der Marodeure, weiter.
Nachdem die Freuden des Plünderns vorläufig ihren Reiz verloren hatten, richteten die Afghanen innerhalb des Kantonnements ihre Jezails auf die eingeschlossene Nachhut, die gezwungen war, ihre Position unter diesem wilden Beschuß beizubehalten, bis das letzte Kamel, der letzte Zivilist und das letzte Packmaultier an ihnen vorbei war. Es dämmerte bereits, bevor sie sich dem Haupttrupp anschließend konnte, und sie ließ einen Offizier und fünfzig Mann tot zurück.
In der ersten Reihe der Hauptabteilung hörte Annabel den Lärm der Verwirrung, die Triumphschreie und das fortgesetzte Knattern der Musketen, das durch die kristallklare Luft von der Nachhut bis nach vorn getragen wurde.
»Was, zum Teufel, ist da los?« murmelte Kit über seine Schulter nach hinten. Aber er konnte die Kolonne nur bis etwa auf Schußentfernung überblicken.
Annabel wendete Charlie aus der Linie. »Ich werde nachsehen«, rief sie.
»Annabel, komm zurück!« befahl Kit, aber sie winkte nur und galoppierte die Kolonne entlang zurück. »Verdammt noch mal!« stieß Kit zwischen den Zähnen hervor, weil es ihm unmöglich war, ihr zu folgen, ohne seinen Posten an der Seite des Generals zu verlassen. »Es sind mindestens drei Meilen bis zum Ende der Kolonne.«
»Das schafft sie schon«, machte Colin ihm Mut. »Das Pferd wird sie nicht im Stich lassen, und wenn du ihr nicht gerade ins Gesicht schaust, dann sieht sie noch immer mehr wie eine Afghanin aus als wie eine Engländerin.«
Der Trost verfehlte seine Wirkung, aber Kit konnte nichts tun, als auf ihre Rückkehr zu warten und sich daran zu erinnern, daß seine Anna über einen ausgebildeten Selbsterhaltungstrieb verfügte.
Annabel ritt in raschem Tempo neben der Kolonne entlang. Männer blieben bereits auf beiden Seiten zurück, brachen vor Erschöpfung oder wegen der Kälte am Wegesrand zusammen, sanken apathisch zwischen die Haufen liegengebliebenen Gepäcks. Afghanische Plünderer schwärmten dazwischen, gingen die gefallenen Sepoys auf der Suche nach Beute mit ihren Messern an. Eine Frau lag im Schnee, neben ihr ein wimmerndes Baby. Ein fanatischer Ghazi stand mit erhobenem Messer über der Daniederliegenden.
»Sohn eines Schweins!« Annabel galoppierte auf ihn zu und überschüttete ihn mit Schimpfworten auf Paschtu, kaum weniger giftig als der fanatischste Ghazi. Er drehte sich um, seine Augen funkelnd vor Zorn über die Beleidigung. Sein Khyber-Messer durchschnitt die Luft, als er auf den Halsansatz des Pferdes zielte und Charlie wich aus, als wären sie beim Üben in der Reitschule. Bevor der Mann das Messer erneut heben konnte, hatte Charlie bereits auf der Stelle gewendet und schwang seine Vorderhufe über seinem Kopf, jeder davon eine ebenso gefährliche Waffe wie alle Sorten von Messern. Der Ghazi gab den ungleichen Kampf auf, anderswo stapelte sich noch genug Beute.
Annabel stieg vorsichtig ab, sich sehr wohl der Tatsache bewußt, daß sie zu Fuß leichter angegriffen werden konnte. Sie trug einen Dolch bei sich, den Kit ihr auf ihre Bitte hin beschafft hatte, aber sie gab sich nicht der Illusion hin, damit etwas gegen ein Khyber-Messer oder gegen einen Säbel
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