Jade-Augen
auszurichten.
Der Mutter des Kindes, eindeutig eine durch den Mangel der vergangenen Wochen geschwächte Prostituierte, war nicht mehr zu helfen. Ihre Augen starrten blicklos in den grauen Himmel, der sich nun langsam mit der heranbrechenden Nacht verdunkelte. Das Baby war blau vor Kälte, in nichts als ein dünnes Tuch gewickelt, und auf seinen aufgesprungenen Lippen zitterte ein erbarmungswürdiges Greinen. Annabel nahm es hoch, schlug das Tuch fester um den winzigen Körper und fragte sich, wie sie wieder aufs Pferd kommen sollte. In der Vergangenheit war immer jemand in der Nähe gewesen, der ihr beim Aufsteigen auf den riesigen Charlie behilflich gewesen war, aber hier draußen auf dem Flüchtlingsfeld gab es keine helfende Hand, noch dazu war sie durch das Kind in ihrem Arm behindert.
Eine zurückgelassene Kiste lag ein paar Schritte entfernt, und sie führte Charlie dorthin. Indem sie die Kiste als Aufsteighilfe benutzte, gelangte sie auf Charlies Rücken, verstaute das Kind sicher in ihrer Armbeuge und blickte sich erneut um. Die Kolonne schleppte sich weiterhin durch den Schnee, inzwischen gefolgt von der Nachhut, in deren Flanken Gruppen von Ghazi gnadenlos wie Schmiedehämmer, gegen die die Truppe machtlos war, immer wieder einfielen. Die ganze grausige Szene wurde erleuchtet von der Feuersbrunst, die in dem verlassenen Kantonnement noch immer wütete, deren Flammen sich orangerot gegen die graue Einöde des Abendzwielichts abhoben, untermalt von dem Bersten der Zerstörung, das in der Stille wie satanisches Gelächter klang.
Krank im Herzen, obwohl sie wußte, daß sie nichts anderes hatte erwarten können, ritt Annabel Charlie zurück zur ersten Linie der Hauptabteilung. Die drei Meilen kamen ihr diesmal viel länger vor als auf dem Hinweg, und ihr wurde klar, daß die Kolonne sehr viel langsamer geworden war und sich entsprechend ausgedehnt hatte. Das Vorwärtskommen wurde von den Körpern jener behindert, die ihren Kampf gegen die Kälte und die Anstrengung aufgegeben hatten, und durch liegengebliebene Gepäckstücke. Wenn schon ein halber Tag eine derartige Auflösung herbeiführen konnte, was würden dann die zu erwartenden sechs Tage nach Jalalabad mit sich bringen?
Kit begrüßte ihre Rückkehr mit wütenden Schmähungen, die sie schweigend anhörte und keinerlei Versuch unternahm, sich zu verteidigen. Sie war von dem, was sie gesehen hatte, zu mitgenommen und sich zu sehr der berechtigten Angst Kits um sie bewußt, als daß sie eine Rechtfertigung hätte vorbringen können, trotz der beschämend öffentlichen Natur des Verweises. »Das war das letzte Mal, daß du meine Seite ohne Erlaubnis verlassen hast, ist das klar?« schloß er, als ihm angesichts jeglicher fehlender Erwiderungen ihrerseits die Luft ausging.
»Ich glaube nicht, daß ich weiteren Anlaß dazu haben werde«, antwortete sie. »Sieh nur, was ich gefunden habe!« Sie zog das Baby aus den Falten ihres Mantels hervor. Es hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu weinen, entweder vor Erschöpfung oder weil ihre Körperwärme es ausreichend tröstete. »Was sollen wir damit tun?«
»Wie, um Gottes willen, bist du zu dem Kind gekommen?« Kit blickte sie bestürzt an.
Annabel schilderte ihm die Geschichte so knapp und sachlich wie möglich, ihre Begegnung mit dem Ghazi so wenig hervorhebend, wie ihre Glaubwürdigkeit es zuließ, aber sie sah trotzdem, wie Kit blaß wurde, als er die fehlenden Details selber ergänzte.
»Charlie und ich sind vollkommen aufeinander eingespielt«, beruhigte sie ihn. »Das war doch der Sinn all dieser Stunden in der Reitschule, nicht wahr?«
Kit seufzte geschlagen. »Wenn wir biwakieren, kannst du das Kind zu einer der Ayas bringen. Ein Kind mehr oder weniger macht für sie keinen Unterschied.«
Sie nickte, und zusammen verfolgten sie ihren Weg in die einsetzende Nacht. Schließlich gab ein Trompeter das Signal zum Halten. »Wir können nicht mehr als sechs Meilen vom Kantonnement entfernt sein«, bemerkte Annabel.
Es war nicht notwendig, diese Aussage weiterzuspinnen. Siebzig Meilen nach Jalalabad konnten nicht in Sechsmeilenetappen bewältigt werden, das wußte jeder.
Harley, der hinter den Stabsoffizieren des Generals geritten war, kam herbei, als die Linien sich auflösten, um eine Art Lager auf dem gefrorenen Ödland aufzuschlagen. »Dort drüben ist ein Bach, Sir«, sagte er. »Ich habe einen der Träger zum Wasserholen geschickt.« Er zog ein kleines Zelt aus einer seiner Satteltaschen und
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