Jade-Augen
suchte nach einem geeigneten Platz, um es aufzustellen.
»Wo, zum Teufel, kommt das her?« wollte Kit wissen.
»Die Miss hat es aufgetrieb’n, Sir«, antwortete Harley. »Auch unsern Proviant haben wir ihr zu verdank’n, Sir.« Er zog getrocknetes Antilopenfleisch, Talkham, hervor und einen Riegel gepreßten Tee. »Wenn wir ’n Feuer in Gang kriegen, dann werd’n wir heute abend klarkommen.«
»Du warst zu beschäftigt, um dich um Nebensächlichkeiten kümmern zu können«, erklärte Annabel, als sie Kits Überraschung sah. »Ich wußte, daß wir uns auf die reguläre Verpflegung durch den Troß nicht verlassen können.« Sie zuckte die Schultern. »Wir haben genug um über die Runden zu kommen, und das Zelt kann wahrscheinlich acht oder neun Menschen beherbergen, wenn niemand daran Anstoß nimmt, daß es ein bißchen eng zugeht.« Sie blickte sich in der unwirtlichen Umgebung um, wo Tiere und Menschen ein wildes Durcheinander schufen. »Stell das Zelt dort drüben bei dem Felsen auf, Harley. Er wird uns ein wenig vor dem Wind schützen.«
»Ich glaube nicht, daß wir Vorteile haben dürfen, die den andern versagt sind«, sagte Kit nachdenklich.
»Aber wir sind bereits im Besitz eines unschätzbaren Vorteils, der allen andern versagt ist«, erinnerte sie ihn: »Ich kenne dieses Land, und ich weiß, wie die Afghanen hier im Winter leben und überleben. Ich bin mit den Nomaden auch im Winter durch den Schnee gezogen. Möchtest du so tun, als hätte ich diese Erfahrungen nicht? Es ist doch besser, sie zu teilen als zu verleugnen?«
»Annabel hat recht, Kit«, pflichtete Bob ihr bei. »Wem willst du eure Vorräte und das Zelt geben?« Er wies auf Menschen und Tiere ringsum. »Willst du einen dieser armen Teufel bestimmen?«
Kit schüttelte den Kopf. »Nein. Jawohl, wir sollten ihre Weitsicht am besten zu unserem eigenen Wohl verwenden. Es ist kein Vorteil, den wir lange haben werden. Willst du jemanden für das Baby suchen, Annabel?«
»Ja, das sollte ich wohl gleich tun«, stimmte sie zu und blickte auf das Bündel, welches sie vor der Kälte geschützt unter ihrem Mantel hielt. »Ich würde es gerne behalten, aber ich habe mich noch nie um ein Baby gekümmert und, um ehrlich zu sein weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll. Ob es wohl Tee trinkt, was meinst du?«
»Zu klein, Miss«, entschied Harley mit Kennerblick. »Geb’n Sie’s mir, ich bring’s zu Mrs. Gardeners Aya. Die arme Dame hat ihr Kind erst vor fünf Tagen gekriegt, also werd’n sie alles dabei hab’n, was man so brauch’.«
»Vor fünf Tagen.« Der Gedanke, diese Reise fünf Tage nach der Niederkunft anzutreten, war unvorstellbar für Annabel, und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Aber dann war ja Mrs. Gardener auch nicht die einzige Gebrechliche, viele von ihnen reisten nur mit ihren Nachtgewändern bekleidet in Sänften durch die eisige Kälte. Sie übergab das Baby und zwang sich, von düsteren Spekulationen abzulassen. »Ich mache uns Tee. Ich habe ein paar Dungfladen in meiner Satteitasche für ein Feuer. Kit, kannst du es anzünden?« Ihr Ton war zögerlich, als sei sie sich nicht sicher, ob man verzärtelten Kavalleriehauptleuten eine so niedrige Aufgabe zumuten konnte.
»Ja, Ma’am.« Kit verneigte sich. »Ich glaube, ich bin der Aufgabe gewachsen, obwohl du uns alle beschämst, fürchte ich.«
Sie lächelte über seinen Versuch, fröhlich zu klingen, aber niemand ließ sich täuschen. Die Wärme des Tees spendete ihnen ein wenig Trost, als sie den kleinen Topf herumreichten und unter ihren Mänteln zusammengekauert um die winzige Flamme des Dungfeuers saßen.
Annabel erinnerte sich an ein anderes Mal, als sie sich in der Hütte des Aksakai so verzweifelt nach Tee gesehnt hatte und auf ihn hätte verzichten müssen, wäre da nicht Akbar Khans wachsame Fürsorge gewesen. Wo war er jetzt? Sie blickte zu den Berggipfeln auf, die sie ringsum umschlossen, tief verschneite Schatten, die sich gegen den Nachthimmel abhoben. War er da oben irgendwo und beobachtete dieses mörderische Fiasko von einem sicheren Platz aus, beobachtete und wartete er auf den richtigen Augenblick, um einzugreifen? Sie war überzeugt, daß er zu irgendeinem Zeitpunkt eingreifen würde, aber auf welche Weise konnte sie sich nicht vorstellen.
»Komm.« Kit berührte sie. »Es ist Zeit schlafen zu gehen.«
Es gelang ihnen, zehn Personen in dem Zelt unterzubringen. Wobei Kit und Annabel nur den Platz eines Körpers benötigten, so eng
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