Jade-Augen
und Hauptmann Lawrence folgten seinem Beispiel, dann saßen sie unbewaffnet und mit versteinerten Gesichtern auf ihren Pferden angesichts der Demütigung dieses Befehls und warteten auf ein Zeichen des Boten.
Auch Annabel wartete, aber die erwartete Aufforderung an sie erfolgte nicht. Die Ghilzai umrundeten wortlos ihre Geiseln, und die kleine Gruppe ritt auf den Hügel zu; die drei britischen Offiziere blickten sich nicht um.
Sie sollte sich also weiter winden, zwar am Haken, aber noch eine Weile im Wasser. Mit einem inneren Schulterzucken wandte Annabel sich ab, nicht ohne zuvor einen Blick von Kit aufgefangen zu haben, in dessen Gesicht nackte Verzweiflung stand, da auch er wußte, daß sie sich am Ende von Akbar Khans Leine befanden. Er würde sie einziehen, wann immer er es für richtig hielt, und bis dahin mußten sie diese schrecklich erniedrigende Hilflosigkeit durchstehen.
Sie verbrachten eine zweite Nacht des Grauens. Der Schnee lag einen Fuß hoch, und der Zugang zum Bach, um Wasser zu holen, wurde von afghanischen Heckenschützen versperrt, die mit vernichtender Treffsicherheit auf die Träger schossen. Das Zelt und die darin zusammengedrängten Körper spendeten Kit und Annabel erneut den Schutz, der den Tod vom Leben trennte, und der neue Morgen brach für jene, die überlebt hatten, in der gleichen Notlage an wie schon der vorangegangene.
Jezails feuerten in die Nachhut der biwakierenden Kolonne, während die Zivilisten nach vorn eilten und den Lasttieren, in einem verzweifelten Versuch zu entkommen, die verbliebene Verpflegung abnahmen. Auf dem Boden lagern überall verstreut Munition, Hausrat und der persönliche Besitz des Kantonnements von Kabul.
Annabel fühlte sich trotz Kits gefalteten Händen unter ihrem Stiefel zu steif, um auf Charlies Rücken zu klettern. Sie um die Hüften fassend, hob er sie mit einigen Schwierigkeiten hoch, bis sie den Sattelknauf ergreifen und sich vollends in den Sattel ziehen konnte. »Ich weiß nicht, warum ich so schwach bin«, entschuldigte sie sich. »Ich glaube nicht, daß ich das Recht habe es zu sein. Hier sind so viele, denen es bedeutend schlechter geht als mir.«
»Die Steifheit wird wieder nachlassen«, sagte Kit ein wenig brüsk, weil er Angst um sie hatte. Sie war so bleich, die Jade-Augen übergroß in dem ausgemergelten Gesicht, ja, eine beunruhigende Zerbrechlichkeit ergriff von dem sonst geschmeidigen Körper Besitz, und in dem zuvor nicht zu bändigenden Geist traten die ersten Risse auf. Er würde es nicht ertragen können, wenn sie den Kampf aufgäbe.
»Sir, das sollte helf’n.« Harley erschien und hielt einen Becher mit einer lohfarbenen Flüssigkeit in den Händen. »Ich weiß, die Miss trinkt keine starken Sachen, aber da hinten geben sie’s den Kindern.« Er streckte ihr den Becher entgegen. »Sogar Lady Sale hat ein Glas genommen. Sie meinte, es hätte ihr kräftig eingeheizt, Miss.«
Annabel nahm den Becher. »Was ist es, Harley?«
»Sherry, Miss«, antwortete der Bursche. »Kippen Sie’s einfach runter. Wenn ein Gläschen den Kindern nich’ schadet, dann wird’s Ihnen auch keine Schwierigkeitn mach’n.«
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Annabel diese Art Ermutigung abgelehnt, aber jetzt nahm sie einfach einen vorsichtigen Schluck. Der Geschmack war unangenehm, aber der Effekt unmittelbar belebend.
»Da hinten verteil’n se die Vorräte aus der Messe, Sir«, erklärte Harley. »Schockierende Zustände, da hinten. Die Träger sin’ alle gestorben oder sin’ desertiert, und sie tun die Damen jetzt in die Körbe auf die Kamele, geradewegs in der Schußlinie.«
»Was ist mit Akbar Khans Eskorte?« fragte Kit Annabel schroff, als ob sie über eine Antwort verfügte. »Er hat seine fünfzehntausend Rupien und die Geiseln. Also was, zum Teufel, will er noch?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete sie und streckte ihm den halbvollen Becher entgegen. »Du wirst auch ein wenig davon brauchen … Ich nehme nicht an, daß er sich mit weniger als einer kompletten Demütigung zufrieden gibt. Du mußt tun, was er sagt, in der Hoffnung, daß er es ehrlich mit dir meint, aber ob er es tut oder nicht, liegt ganz und gar bei ihm.« Sie blickte zurück auf das brodelnde Durcheinander. »Vor uns liegt der Khoord-Kabul-Paß.«
Die Männer um sie her erwiderten nichts. Die Khoord-Kabul-Schlucht war fünf Meilen lang, mit steilen Felswänden, die sich auf beiden Seiten erhoben, einem wilden Sturzbach mitten hindurch und Eis und Schnee
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