Jade-Augen
entronnen und stießen in die offene Ebene, wo sie die Helligkeit des Schnees einen Augenblick blind und die Stille taub machte nach dem wilden Widerhall des Gewehrfeuers und der Schreie, die sich an den Felswänden brachen.
»Bleib bei der Gruppe um den. General«, verlangte Kit von Annabel. »Ich muß mit einer Abteilung zurückreiten, um den armen Teufeln, die noch versuchen herauszukommen, Deckung zu geben. Versprich mir, daß du dich nicht von der Stelle rührst.«
Sie sah ihn mit leeren Augen an, als ob sie ihn weder sehen noch hören könnte. Dann jedoch wurden ihre Augen klar, und sie nickte: »Tu, was du tun mußt.«
Er ritt davon, zurück in den Paß, eine Abteilung des vierundvierzigsten Infanterieregiments, die orientierungslos und verwirrt umherirrte, zum Dienst zwingend. Nun sammelten sie sich und folgten ihm zu einem aus Felsen bestehenden Vorposten am Ausgang des Passes. Von dort aus beherrschten sie den Ausgang und eröffneten ein Trommelfeuer auf den Feind, bis der letzte stolpernde Überlebende der Nachhut die Schlucht verlassen hatte und zum Sammelplatz gelangt war.
Fünfhundert Soldaten und über zweitausendfünfhundert Zivilisten fielen an diesem Tag in der Schlucht.
Das Elend auf dem Sammelplatz schrie gen Himmel, so daß Kit sich fragte, ob nicht die Toten auf dem Paß das bessere Los gezogen hatten. Der General und sein Stab, jene, die den Fängen des Todes entronnen waren, hatten sich in verzweifelter Beratung zusammengeschart – die afghanischen Anführer und ihr Gefolge, deren Männer so tatenlos zugeschaut hatten, saßen ein wenig entfernt auf ihren Pferden. Von Annabel war nichts zu sehen.
»Wo ist Annabel?« Er versuchte seine schrille Stimme zu dämpfen, die ihm die eigenen Ohren durchbohrte.
»Bei den Frauen«, teilte ihm ein erschöpfter Hauptmann mit, der versuchte, die Blutung einer Oberschenkelwunde zu stillen. »Lady Sale ist von einer Kugel in die Hand getroffen worden, und auch andere sind in furchtbarer Bedrängnis. Miss Spencer ist gegangen, um ihnen beizustehen.«
Kit blickte sich um und sah überall Gestalten mit unterschiedlichen Verwundungen am Boden liegen. Er fragte sich, warum die Afghanen nicht kamen und ihnen jetzt den Garaus machten, wo sie ihnen doch so vollkommen ausgeliefert waren. Wieder tauchte das Bild von der mit einer Maus spielenden Katze in ihm auf, die ihrem Opfer gestattete zu fliehen, sich einen glücklichen Augenblick lang gerettet zu fühlen, nur um nebenher und scheinbar gleichgültig mit der Tatze auszuholen.
Annabel verband soeben Lady Sales Hand und blickte nicht sofort auf, als er ihren Namen sagte. Überall saßen Frauen und Kinder auf Gepäckstücken oder waren einfach an Ort und Stelle vor Erschöpfung oder aus purem Entsetzen zusammengebrochen. Lady Sale saß trotz ihrer Blässe aufrecht und versuchte alle Umsitzenden aufzumuntern und ihnen gut zuzureden. Die Gesellschaft und Hilfe der schamlosen Dirne, die das Bett mit Christopher Ralston teilte, nahm Lady Sale unter diesen extremen Umständen tapfer hin.
Annabel richtete sich auf und blickte Kit ruhig an. Auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck eines Menschen, der in die Verzweiflung hinabgetaucht war, dort nach der einzigen möglichen Lösung gesucht und sie auch gefunden hatte, eine Entscheidung, die ihr jetzt die Ruhe der Ergebung schenkte. »Ich gehe zu Akbar Khan.«
Sein Herz krampfte sich zusammen. »Sei nicht lächerlich«, sagte er.
»Es muß sein.« Sie wies auf die verzweifelte Szene vor ihnen. »Im Paß ist mir klargeworden … Es war genauso wie bei jenem andern Mal … der Lärm … der Anblick.« Sie entfernte sich von der Gruppe, und Kit faßte sie am Arm. »Jenes andere Mal hat mich zu Akbar Khan geführt. Der Kreis hat sich geschlossen.« Sie hielt inne und blickte zu ihm hoch, ihre Augen starr in ihrem Bemühen um sein Verstehen. »Es ist Schicksal, Kit.«
»Zur Hölle mit deinem Schicksal!« schrie er in seiner Qual auf. »Auf welche Weise sollte es irgend jemandem nützen, wenn du dich diesem verräterischen Hundesohn auslieferst? Am wenigstens dir selbst!«
»Am Ende werde ich ja doch gehen müssen«, versicherte sie ihm gleichmütig. »Wir beide wissen das. Und ich weiß, daß er auf mich wartet. Vielleicht habe ich, wenn ich freiwillig zu ihm gehe, die Möglichkeit, mich wenigstens für Frauen und Kinder einzusetzen. Ich muß es versuchen, Kit; sicherlich kannst du das verstehen? Es gibt niemanden sonst, der wie ich Zugang zu ihm hat. Ich kenne ihn, soweit
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