Jaeger
glauben.
Zweiter Teil
Ostersamstag
25 Beim Aufwachen fühlte sich Marina wie gerädert. Die erste Nacht in einem fremden Bett war für sie selbst unter normalen Umständen unangenehm. Sie schreckte fast stündlich und bei jedem ungewohnten Geräusch aus dem Schlaf hoch, wusste dann nicht, wo sie war, und wunderte sich darüber, dass ihr Zimmer so anders aussah. Und die gegenwärtigen Umstände waren alles andere als normal. Sie befand sich in einer Extremsituation.
Sie hatte dagelegen, abwechselnd Wand und Decke angestarrt und Angst gehabt, jemand – oder etwas – könne irgendwo in der Dunkelheit lauern, um über sie herzufallen. Sie hatte den Lichtstreifen unter der verschlossenen Zimmertür beobachtet, um sofort reagieren zu können, sollte jemand versuchen, bei ihr einzudringen. Oder ihr eine Botschaft unter der Tür durchschieben. Und jedes Mal, wenn sie dann doch die Augen schloss, sah sie die Gesichter ihres Mannes und ihrer Tochter vor sich.
Irgendwann war sie zu erschöpft, um noch länger wach zu bleiben, und schlief ein. Doch selbst das brachte ihr keine wirkliche Erholung. Sie dämmerte im Halbschlaf dahin und träumte wirres Zeug. Ihr Unterbewusstsein schien ihr zuzurufen, ja nicht loszulassen, sich ja nicht einlullen zu lassen, und ihr Körper reagierte darauf, indem er sie im Laufe der Nacht immer wieder durch heftiges Zusammenzucken aus dem Schlaf riss.
Das Handy blieb die ganze Zeit über stumm.
Jedes Mal, wenn sie wach wurde, nahm sie es vom Nachttisch. Halb hoffend, halb bangend schaute sie nach, ob sie vielleicht einen Anruf oder eine SMS verpasst hatte. Als wäre sie vom Klingelton nicht sofort aufgewacht.
Manchmal rollte sie sich in Embryonalstellung zusammen und ließ den Tränen freien Lauf. Andere Male schrie sie und trat um sich, während ihr die Wut wie elektrische Spannung durch die Adern schoss und sie wüste Verwünschungen ins Dunkel spie. Oder sie lag einfach nur da und versuchte, nicht an ihre Situation oder ihre Familie zu denken. Gar nichts zu empfinden. Einfach taub zu sein.
So verging die Nacht.
Sie kroch aus dem Bett und schleppte sich ins Bad. Das Licht war grell und unbarmherzig wie in einem Konferenzzentrum. Sie betrachtete ihren Körper und stellte fest, dass ihre äußere Erscheinung ihr inneres Empfinden perfekt widerspiegelte. Eine Seite ihres Körpers war von ihrem Sturz bei der Autoexplosion voller Blutergüsse und Schürfwunden. Sie taten bei jeder Berührung weh. Das Gesicht im Spiegel war das einer zehn Jahre älteren Frau. Es wirkte gehetzt, und unter ihren Augen lagen dunkle Ringe.
Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, um sich wieder ein bisschen lebendiger zu fühlen. Sie beschloss zu duschen, doch bevor sie das tat, ging sie noch einmal ins Schlafzimmer, nahm das Handy und schaute nach verpassten Anrufen. Nichts. Sie stieg unter den heißen Strahl der Brause und fing sofort an, sich Sorgen zu machen, ob Dampf und Spritzwasser dem Handy womöglich schaden könnten.
Sie schloss die Augen. Fühlte das warme Wasser auf der Haut, das sie zu streicheln schien und sie entspannte. Und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen, weil sie nahe daran gewesen war, es zu genießen.
Kaum war sie aus der Duschkabine gestiegen, überprüfte sie erneut das Handy. Es funktionierte nach wie vor einwandfrei, und es war weder ein Anruf noch eine Textnachricht eingegangen. Dieses angespannte Warten zehrte an ihren Nerven.
Sie ging zurück ins Zimmer und trocknete sich ab. Beim Anblick des Kleiderhaufens am Boden sank ihr Mut noch weiter. Am liebsten hätte sie die Sachen verbrannt. Sie wollte sie nie mehr wiedersehen. Sie waren schmutzig, zerrissen und stanken nach Schweiß. Aber sie hatte nichts anderes bei sich, also musste sie wohl oder übel mit ihnen vorliebnehmen.
Sobald sie sich angezogen und ihre wirren Locken notdürftig gerichtet hatte, setzte sie sich auf die Bettkante und wartete. Da es weiter nichts zu tun gab, schaltete sie den Fernseher ein. Dort liefen gerade die Lokalnachrichten. Viele Meldungen gab es nicht. Ein Autounfall auf der A 12 . Kürzungen bei den öffentlichen Versorgungsbetrieben in Braintree. Ein auf Bewährung freigelassener Mörder, der nicht in seinem Rehabilitationszentrum erschienen war. Marina war mit ihren Gedanken meilenweit weg und bekam kaum etwas mit.
Dann klingelte das Telefon.
Love Will Tear Us Apart.
Mit klopfendem Herzen griff sie danach.
»Ja …?«
Die Stimme sang: »This is the day-ay your life will surely
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