Jäger der Nacht (German Edition)
Riegel auf den Boden und schloss die Tür.
Der Schlag, der sie jetzt traf, riss ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Sie schwankte, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten – einen Sturz hätten die Sensoren im Flur bestimmt wahrgenommen. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem und erreichte gerade noch rechtzeitig das Bett, bevor sie zusammenbrach. Schweiß stand auf ihrer Stirn und ihre Hände waren feucht – die körperliche Reaktion auf unbekannte Stressfaktoren.
Angst.
Sie war eine Mediale. Sie sollte keine Angst spüren. Aber sie sollte auch nicht sehen, was sich ihr nun aufdrängte. Die Dunkelheit brach durch die dürftigen Wände ihrer Abwehr und krallte sich in ihrem Verstand fest. Sie bäumte sich auf, ihre Fäuste ballten sich, ihre Zähne schlugen mit aller Macht aufeinande r – dann waren da nur noch die Bilder der Vision.
9
Es war, als wüsste die Dunkelheit, wann Faith allein und hilflos war. So wie eine schreckliche Bestie im Schatten darauf wartet, dass ihre Beute in ihrer Wachsamkeit nachlässt, kroch die Dunkelheit durch Faiths Wahrnehmungskanäle und bemächtigte sich ihrer Sinne. Und dann zwang sie – er? – sie mitanzusehen, was passieren würde, wenn niemand sie aufhielte.
Blut, so viel Blut an diesen Händen, diesen Haaren, dieser Haut. Die blasse zarte Hand, unter dem dunklen Überzug fast nicht mehr zu sehen – Moment mal. Sie war doch viel älter, hatte über ein Jahrzehnt mehr Erfahrung als dieser schlanke bluttriefende Junge. Aber dieselbe Dunkelheit, dasselbe Böse. Auf einmal wusste sie, was sie sah, und so etwas passierte ihr nur selten.
Eine unerwartete, weitere Form der Fähigkeit zur Vorhersage war der Blick in die Vergangenheit. Aber V-Mediale, die hauptsächlich Vergangenes sahen, waren außerordentlich selten. Faith fiel niemand ein, der diesbezüglich in den letzten fünfzig Jahren aufgefallen wäre. Diese Leute verdingten sich meist bei der Polizei. Bei anderen, sehr aktiven V-Medialen traten die Rück-Sichten meist ein- bis zweimal im Jahr auf. Bei ihr waren es immer Bilder gewesen, die in irgendeinem Zusammenhang mit der Zukunft standen, die sie gerade zu ergründen versuchte.
Nie war sie so mit Blut besudelt gewesen, es klebte überall an ihr, mit jedem Atemzug drang der metallische Eisengeruch in ihre Nase. Ihre Augenlider waren mit Blut verkrustet, das unter ihren Fingernägeln zu einer fast schwarzen Masse getrocknet war. In dem geronnenen Blut auf dem Boden sah man ihre Fußabdrücke. In einer Hand hielt sie ein Messer, und als sie sich aufrichtete, fiel das Licht einer Taschenlampe darauf.
Einer Taschenlampe?
Sie drehte sich um und sah, dass Männer in schwarzen Anzügen sie umringten. Das Bild verschwand, und als sie erneut die Augen öffnete, befand sie sich in einem völlig weißen Raum. Sie war älter, Jahre älter, und dürstete nach Blut. Sie hatte Hunger. Großen Hunger. Auf menschliche Beute.
Ein weiterer großer Zeitsprung. Wieder waren die schwarz gekleideten Männer bei ihr. Sie ließen sie am Eingang eines Labyrinths frei, und sie begann zu jagen. Die Angst ihres Opfers war wie eine Droge für sie. Sie rannte mit kräftigen Beinen, wusste, sie hatten das richtige Opfer für sie ausgewählt. Wie immer.
Ihre Faust umklammerte das Messer. Sie sah den verletzlichen Nacken eines Mädchens, das auf dem harten Boden gestürzt war. Sie spürte ein vergnügtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Das würde richtig Spaß machen.
Nein!
Faith riss sich selbst mit solcher Gewalt aus dieser Vision, dass sie vom Bett fiel. Sie kauerte sich wie ein Embryo zusammen und versuchte, das Wimmern zu unterdrücken, das Blut aus ihrem Kopf zu löschen. Einen unendlich langen Augenblick war sie der Mörder gewesen, das Böse, das ihre Schwester getötet hatte. Nur das Wissen, dass sich ihre eigenen Hände gleich um den Hals ihrer Schwester legen würden, hatte sie schließlich wieder zu sich gebracht.
Die Kommunikationskonsole am Bett läutete. Sie hatten sicher den Sturz gehört. Die Sensoren waren sehr fein eingestellt und sie war sehr laut gewesen. Mühsam erhob sie sich und antwortete, ohne den Bildschirm einzuschalten. „Ich bin nur auf etwas getreten.“
„Haben Sie sich verletzt?“
„Nein. Es geht mir gut. Bitte stören Sie mich bis morgen früh nicht.“ Nach dieser knappen Mitteilung unterbrach sie die Verbindung, denn ihre Stimme war kurz davor zu versagen. Sie wollte zittern, wollte weine n – der zweite Schritt auf dem Weg in den
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