Jäger der Nacht
zurück oder wann immer es war...»
Er spürte Mr. Grahams Augen aufmerksam auf sich gerichtet.
«Du hast die Botschaft verstanden, nicht wahr?»
«Ja, hab’ ich. Wie es damals war.»
Mr. Graham rieb sein Kinn. «Komm für einen Moment mit ins Büro.»
Kevin stockte fast der Atem. «Okay. Sicher.»
Er folgte Mr. Graham ins Lehrerzimmer, einem großen Raum mit Schreibtischen überall. Mr. Grahams Schreibtisch stand in einer Ecke, übersät mit Büchern und Papieren; daneben stand ein geradlehniger Stuhl. «Setz dich», sagte Mr. Graham und zeigte auf den Stuhl. Kevin setzte sich pflichtschuldigst und hoffte, daß keiner der Jungs, die er kannte, ihn durch das Fenster sehen und ihn für einen Arschkriecher halten würde.
Mr. Graham lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Weißt du, Kevin, du bist einer meiner wenigen Schüler mit einem Sinn für Geschichte.»
Kevin war verlegen. «Danke.»
«Selten heutzutage.»
«Ich nehme an, dadurch, daß ich die meiste Zeit meines Lebens bei Pflegefamilien aufgewachsen bin...» Er rang nach Worten. «... ich frage mich, woher ich abstamme... versuche immer wieder herauszufinden, wie es wohl war...» Er schüttelte seinen Kopf.
«Meine Mutter... sie ist keine große Hilfe.»
«In einer Stadt wie dieser bist du von Geschichte umgeben. Sie reißen sie immer wieder ein, aber es gibt immer noch ‘ne Menge... zum Beispiel Jefferson Square, die Häuser rund um den Greystone Park, die Mirabelle. Du mußt nur offene Augen haben und Fantasie...» Mr. Graham grinste. «Natürlich hilft es auch, einiges zu wissen. Aber du bist ein heller Junge.»
Kevin ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. «Da gibt’s einen Friedhof unten an der Houghton Street. Eines Nachts sind mein Bruder und ich dort gewesen, um... nun, um uns mal umzusehen. Ich meine, es war gespenstisch und so, aber ich habe mich seitdem gefragt: Wenn all diese Leute aus ihren Gräbern kämen, das war’ doch was! Wissen Sie, sie auszufragen, herauszufinden, wie sie gelebt haben, was sie gedacht haben. War es denn wirklich so langweilig, zu singen und zu lesen und zu spielen? Das frage ich mich immer wieder...»
Mr. Graham lachte.
Kevin war verwirrt. «Hab’ ich was Dummes gesagt?»
«Nein, Kevin, du hast was sehr Kluges gesagt, und du hast es sehr gut gesagt.»
«Oh, ich wollte nicht... ich meine, ich hab’ nicht versucht...»
«Ich bin auch auf Friedhöfen gewesen... und habe an dieselben Dinge gedacht.»
«Hatten’s Ihnen die Gespenster angetan?»
«Nein, ich war nur neugierig.»
Nach der Schule trieb Gino einen Joint auf, und er und Kevin zogen sich in Ginos Keller zurück, um den Joint zu teilen. Während Gino den Joint anzündete, legte sich Kevin auf der Matratze zurück und starrte an die Decke.
«Gino.»
«Hä?»
«Weißt du, wir haben nur noch zwei weitere Jahre auf der High
School.»
«Zwei Jahre zu viel. Der ganze Scheiß macht mich krank.» Gino nahm einen tiefen Zug vom Joint und reichte ihn Kevin.
«Du machst deinen Abschluß, nicht wahr?»
«Wahrscheinlich. Aber danach... wow!»
«Gehste nicht aufs College?»
«Und hab’ hier meine dämlichen Schwestern am Hals? Vergiß es, Alter!»
«Was machste dann?»
«Such’ mir ‘nen Job, hau’ aus diesem Dreckstall ab, besorg’ mir
‘ne eigene Wohnung, und ‘ne Karre, und ‘ne Anlage, und bums’ Tussies. Das werd’ ich machen.» Er stieß einen dünnen Rauchfaden aus. «Und du?»
Kevin fühlte sich schwer. Das Kraut begann zu wirken. «Weiß nicht.» Er seufzte. «Mr. Graham meint, daß ich aufs City College gehen sollte, aber ich weiß nicht, wie lange ich es noch zu Hause aushalte.»
«Ganz schön hart für dich da, nä?»
«Sie versaufen das ganze Geld und verkloppen sich oft.»
«Ja, aber in den letzten Tagen hast du Geld gehabt.»
«Nicht von ihnen.»
«Woher hastes denn?»
Kevin nuschelte nur noch. «Botengänge und so’n Kram.»
«Aber ein Zwanziger! Heiliger Bimbam, ich kann mich nicht mal daran erinnern, wann ich mal einen Zwanziger hatte.»
Kevin bedauerte, ihm jemals von Harrys Zwanziger erzählt zu haben, und etwas davon war sowieso fürs Taxi drauf gegangen.
Gino ließ nicht locker. «Was sagen deine Leute?»
«Hab’s ihnen nicht erzählt. Wenn ich’s ihnen sagte, würde ich noch nicht mal mehr Geld fürs Mittagessen kriegen.» Kevin seufzte. «Dennis hat so eine Art an sich, was aus ihnen rauszuholen. Aber ich kann sowas wohl nicht. Manchmal glaube ich, nirgendwo hinzugehören... überhaupt nirgendwo
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