Jäger der Nacht
er war groß und lungerte mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen in einer Einfahrt herum. Aus irgendeinem Grund dachte Bruce bei ihm an Gefahr und fuhr auch an ihm vorbei. Für irgendwelchen Ärger fühlte er sich in dieser Nacht nicht aufgelegt. Das Erlebnis mit Amory saß ihm noch in den Knochen.
Noch zwei Jungs. Einer sah wie zwölf aus. Langsam fuhr Bruce an weiteren weißen Punkten vorbei, an weiteren Körpern, die sich in der Dunkelheit der Nacht aufzulösen schienen. Warum hielt er nicht an? Langweilte ihn auch das schon? Sicherlich, eine dieser Gestalten...
Und dann hielt er an.
Die Gestalt hatte sich nicht an eine Mauer oder in eine Einfahrt geschmiegt, sondern stand mitten auf dem Bürgersteig mit jungenhaft‐ungelenk schlackernden Armen. Wie der Junge so dastand, sah er so verletzlich aus, als ob er irgendwie darauf warten würde, von einem Wagen überfahren oder von einem Racheengel hinweggefegt zu werden. Sein Gesicht lag im Schatten, aber Bruce glaubte zu erkennen – oder bildete er sich das nur ein? –, daß große Augen um eine Zuflucht bettelten. Zumindest vermittelte ihm die Haltung des Körpers diesen Eindruck. Bruce spürte, wie er mit jeder Faser seines eigenen Körpers darauf ansprang.
Er lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür.
Ein Gesicht spähte in den Wagen. Ja, da waren gehetzte Augen. In einem Gesicht, das für Bruce eine sinnliche Schönheit hatte. Hohe Wangenknochen. Weiche Haut. Aufgeworfene Lippen, beinahe so wie Amory sie hatte. Bruce schätzte ihn auf 15, 16, aber er schien weder so unverschämt noch so abgewichst wie andere Stricher in seinem Alter zu sein. Seine Anmut war fast wie die eines Kindes.
«Hallo», sagte der Junge.
«Hallo.»
Pause. Bruce wartete, irgendwas von Geld zu hören, aber der Junge stand einfach so da und sah ihn mit diesen leuchtenden Augen an.
«Warum steigst du nicht ein...»
«Danke.»
Im selben Moment saß der Junge auch schon neben ihm, und
Bruce fühlte eine ungewohnte Erregung, die ihm durch und durch ging.
«Ich heiße Sam», sagte Bruce.
«Mein Name ist Kevin.»
Bruce war irgendwie unangenehm berührt von dem Gedanken, daß der Junge wahrscheinlich seinen echten Namen angegeben hatte.
«Wo fahren wir hin?» fragte Kevin, als Bruce den Motor anließ.
«Ich kenne hier ein Hotel in der Nähe.»
«Das Savoy?»
Bruce nickte. Klein‐Kevin war wohl nicht so naiv wie er aussah.
«Du kennst das Hotel?»
«Ich war schon da, einmal.»
«Ganz nett da.»
Das Schweigen, das von Kevin ausging, war nahezu mit den Händen zu greifen, während Bruce von der Hafenstraße abbog und die Lichter des Savoy in Sichtweite kamen. Bruce parkte den Wagen ein und stellte den Motor ab. Aber Kevin machte keine Anstalten auszusteigen.
«Wir sind da», sagte Bruce und warf Kevin einen schnellen Seitenblick zu. Kevin sah starr geradeaus. Seine Hände lagen, zu Fäusten verkrampft, auf seinen Beinen.
Schließlich sagte der Junge: «Sam...»
«Ja?»
Kevin schien mit den Worten zu ringen. «Nimm mich... mit nach
Hause zu dir.»
Bruce war perplex. So sprach kein normaler Stricher. Eine Runde im Savoy, und der Stricher würde nach einer Stunde oder so wieder auf die Straße zurückkehren, um sich den nächsten Freier zu angeln. Der einzige Grund, warum ein Stricher zu einem Freier in die Wohnung kommen will, ist, um dort nach Dingen zu suchen, die er stehlen kann. Aber seine Eingebung sagte ihm, daß Kevin nicht zu dieser klauenden Sorte gehörte. Warum dann bat Kevin so eindringlich darum?
«Nun... äh... ich wohne ganz schön weit weg von hier.»
«Macht mir nichts aus.» Pause. Dann, leise: «Ich möchte eben mit dir zusammen sein.»
Bruce sah den Jungen an. Der Junge erwiderte den Blick, ohne ein Wort zu sagen. Alles, was Bruce spürte, war die dringende Bitte. Ihm kam kurz die Idee, daß der Junge vielleicht auf der Flucht vor den Bullen war. Aber das war kein jugendlicher Gauner. Warum suchte er eine Zuflucht? Wovor floh er – vor seinem eigenen Schuldgefühl? Wessen konnte sich dieses Kind schuldig fühlen?
Aber alle Überlegungen verblaßten gegen das Gefühl, gebraucht zu werden; und Bruce hatte nicht sehr oft das Gefühl gehabt, daß er gebraucht wurde. Er ließ den Wagen an, fuhr aus der Parklücke und nahm Kurs auf Gallatin House. Kevin rutschte dichter ran, bis sich ihre Beine berührten, und Bruce spürte Kevins Hand, die sanft auf seinem Knie lag. Solange er schon mit Strichern zu tun hatte: So etwas war ihm
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