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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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fragte sich, wie Mr. Graham wohl aussähe, wenn er unter der Dusche stand. Wie schrubbte er sich ab? War seine Brust voller Haare? Wie sah sein Schwanz aus? Hatte er Muskeln an Schultern und Armen? Er fragte sich, wie wohl der Körper dort hinter dem Pult unter dem Anzug aussähe.
    Er riß sich zusammen. So durfte man nicht über einen Lehrer nachdenken, noch nicht mal über Mr. Graham. Lehrer machten keinen Sex; sie waren alle zu alt, zu müde und hatten zu viel im Kopf.
    Dennoch, vielleicht Mr. Graham... manchmal... gelegentlich... könnte... So alt war er nun auch nicht. Und wenn er... Kevin fühlte sich merkwürdig ehrfürchtig und aufgewühlt bei dieser Möglichkeit, selbst wenn er es mit einer Frau täte.
    Aber vielleicht mochte er Typen.
    Nein. Nichts in der Art. Mr. Graham war nicht vergleichbar mit der ‹Prinzessin› in der Laureldale High School.
    Mr. Grahams Stimme: «Nach dem Bürgerkrieg blühte das Leben wieder auf. Eisenbahnen schlugen die langsamen Binnenschiffe aus dem Feld. Telegrafenleitungen verbanden das Land in schneller Kommunikation. Aber denkt dran, es gab keine Autos, kein Telefon, kein Radio, kein Kino und kein Fernsehen...»
    Gino murmelte in Kevins Ohr: «Mann, war das stinklangweilig!»
    «... und nahezu alle Fortbewegung geschah in dem Schrittempo, wie ein Mann gehen oder ein Pferd trotten konnte. Denkt drüber nach. Jetzt, etwa hundert Jahre später, erkunden wir die Planeten; aber laßt eure Gedanken zurückschweifen und versucht euch vorzustellen, wie es gewesen sein muß, sich so gemächlich durch die Umwelt zu bewegen, durch eine Umwelt, die viel mehr aus Natur bestand als die Welt, in der wir heute leben. Pferde sind Tiere, keine Maschinen, und sie bewegten sich meist im Dreck, nicht auf Pflaster. Man baute hauptsächlich mit Holz, mit Steinen, die man aus der Erde brach, und mit Lehm, aus dem man Ziegelsteine machte. Einige Metalle, und kein Kunststoff. Es war ein weiter Weg bis heute...» Er machte eine Pause, und der Anflug eines gezwungenen Lächelns huschte über sein Gesicht. «... und ich bin mir nicht sicher, daß es uns damals schlechter gegangen ist.»
    «Aber viele Menschen starben. Babys. Und auch Mütter. Viel mehr als heute», rief ein Mädchen.
    «Wohl wahr», sagte Mr. Graham.
    Ein schwarzer Junge meldete sich. «Und mit den schwarzen Leuten hatte man auch nicht viel im Sinn, was Lincoln auch immer getan hat.»
    «Er hat etwas in Gang gesetzt», sagte Graham.
    «In Gang gesetzt! Wir mußten hundert Jahre auf Martin Luther King warten!»
    «Wohl wahr.»
    «Und was haben sie bloß ohne Fernsehen gemacht!»
    Graham grinste. «Sie haben sich miteinander unterhalten und haben gesungen und ihre eigene Musik auf dem Klavier und dem Banjo gemacht. Und sie haben Bücher gelesen.»
    Gino schüttelte seinen Kopf und wisperte: «Was ist schon ‘ne Gitarre ohne Verstärker?»
    Aber Kevin ertappte sich dabei, wie er seine Hand hob. «Aber was ist daran so schlimm, wenn sich Leute unterhalten und singen?»
    Eine Jungsstimme aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers.
    «Worüber können die schon reden, wenn sie keine Sechsuhrnachrichten sehen?»
    Mr. Graham hatte so eine Art an sich, eine Diskussion anzuheizen und sich dann zurückzulehnen für ein Weilchen und die Zügel schleifen zu lassen. Kevin fragte sich, was er dachte, als die Diskussion durch die Klasse tobte. Es schien ihn so überhaupt nicht zu berühren; aber da war ein Funkeln in seinen Augen. Kevin hatte so ein Gefühl, daß Mr. Graham gern unterrichtete. Er konnte sich nicht vorstellen, warum.
     
    Es war purer Zufall, daß Kevin Mr. Graham traf, als dieser während der Mittagszeit aus dem Lehrerzimmer kam. Kevin schluckte. Es lag nicht an seinem Mut, sondern war ein Reflex, der ihn veranlaßte zu sagen: «Mr. Graham...»
    Der Lehrer blieb stehen und sah ihn an. Aus der Nähe wirkte er größer. «Ja, Kevin?»
    «Es ist wegen der Mirabelle...»
    «Die Mirabelle?»
    «Ja, das Segelschiff, das an der Hafenstraße festgemacht hat.»
    «Oh, ich weiß, welches du meinst.»
    «Nun, das ist so was Ähnliches wie das, über das Sie im Unter‐
    richt gesprochen haben. Nur daß es da ist.» Kevin stotterte. «Ich hab’ sogar... ich meine, ich hab’ sogar versucht, an Bord zu gehen, nur um mich mal umzusehen, aber ich hab’s nicht geschafft. Aber dennoch... wissen Sie... es da nur an der Mole liegen zu sehen, mit all den Masten und so, da hatte ich dieses Gefühl... wie es wohl sein würde... wissen Sie... hundert Jahre

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