Jäger der Nacht
würde.
Bruce stand aus seinem Sessel auf, ging zum Schlafzimmer und zog betont auffällig die Vorhänge zu. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück und setzte sich dicht, aber ohne ihn zu berühren, neben Kevin auf den Diwan.
Kevin sah von Bruce weg; er schlug seine Augen nieder und konzentrierte seinen Blick auf den Fußboden. Seine Stimme war kaum wahrnehmbar. «Soll ich mich jetzt ausziehen?»
Bruce versuchte, seiner Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu geben, aber sein Hals war trocken. «Wenn du möchtest.»
«Ich möchte mich für dich ausziehen, außer...»
«Außer was?»
Kevins und Bruces Blick trafen sich, und die flüchtige Spur eines Lächelns huschte über Kevins Lippen. «Außer, daß ich glaube, daß ich zu mager bin.»
Auch Bruce lächelte. «Für mich siehst du gerade richtig aus.»
«Wirklich?» Die Frage war ernst gemeint.
Bruce nahm eine von Kevins Händen in die seine. «Ja.»
«Wart’s ab, bis du mich gesehen hast.»
«Ich schaue zu.»
Kevin erhob sich und stand mitten im Wohnzimmer mit dem Gesicht zu Bruce; er sah ihn mit entschlossenem Blick an. Seine Augen schienen nicht mehr so gehetzt auszusehen; sie strahlten eine verhaltene, aber leuchtende Wärme aus, die Bruce noch bei keinem Stricher gesehen hatte – das und die beschwingte Musik, das milde Licht und die Wärme, die der Brandy in ihm auslöste, ließen Bruce ein klein wenig Ehrfurcht vor dem fühlen, was da vor ihm stand.
Kevin zog sich sein T‐Shirt über den Kopf und legte es auf die Lehne des Diwans. Er war in der Tat mager, aber die Schultern waren breit, und die Muskeln am Oberarm und auf der Brust zeichneten sich in Anfängen auf dem samthäutigen Körper ab. Er beugte sich runter, machte die Schnürsenkel auf, zog seine Turnschuhe aus, stopfte die Socken rein und stellte sie, Seite an Seite, direkt neben den Diwan. Als seine nackten Füße genießerisch über das Gewebe des Teppichs glitten, streckte er seine Zehen in wohliger Entspannung. Dann öffnete er langsam seinen Gürtel und glitt mit animalischer Anmut aus seinen Hosen und Unterhosen, während seine Augen immer noch Bruces Blick fixierten. «Hier bin ich», sagte er.
Was Bruce vor sich sah, was das geschmeidige Urbild der Jugend an der Schwelle zu kraftvoller Männlichkeit, nun jedoch ertappt in einem Moment deutlich erwartungsvollen Schweigens. Kevin schien seine Nacktheit als Befreiung zu feiern. Er hob seine Arme, und indem er sich nach der Musik reckte und streckte, begann er, sich rhythmisch durch den Raum zu bewegen und eine überschwengliche Freude zu zelebrieren, mit der er ganz offensichtlich sicherstellen wollte, daß Bruce jeden Winkel und Vorzug seines Angebotes würdigen konnte. Und das tat Bruce auch. Und er fühlte sich zu den Verlockungen, die mächtiger waren als in seinen kühnsten Träumen, unwiderstehlich hingezogen. Kevin hatte die Führung in diesem Spiel übernommen.
Aber plötzlich hörte er auf und stand bewegungslos vor Bruce.
«Ich bin mager, nicht wahr?»
«Du bist schön.»
«Das sagst du nur so.»
Bruce hob verteidigend seine Hand. «Okay. Okay. Ich will dienen Narzismus nicht ermutigen.»
«Was ist das?»
«Eitelkeit, Junge. Eitelkeit.»
«Ich? Ich bin mager.» Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. «Ich möchte nur schön sein... für dich.»
«So...?»
«Was?»
«Ich sagte das... zu mir... daß du schön bist.» Nun sah Bruce Kevin fest in die Augen. «Glaub es.» Und Bruce fragte, in was um alles in der Welt er da hineingeriet. Was sagte er da zu einem Hafenstricher, den er wahrscheinlich nie wiedersehen würde? Nun denn. Das Spiel. Das Vergnügen. Die Verlockung. Aber «glaubte» er es?
«Ich möchte hören, daß du es sagst», sprach Kevin.
«Ich hab’ es gesagt.»
«Niemand sonst sagt es. Aber... ich möchte es eben von dir hören.»
Mein Gott, dachte Bruce, war dieses verrückte Spiel im Preis ein‐
geschlossen? Der Gedanke verunsicherte ihn. Dieser Typ hier barg ein nur ihm eigenes Aufputschmittel in sich. Vielleicht ist es der Ausgleich für einen noch unbekannten Mangel. Aber dann, bei nochmaliger Überlegung, kam Bruce zu dem Schluß, daß er dabei war, sich voll in die Nesseln zu setzen. Finanzielle Erwägungen waren eine zu einfache Erklärung für diesen Zauber, der dem Raum Glanz verlieh.
War es etwa möglich, daß dieser Zauber etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte? Eine Wirklichkeit, die nichts mit Geld zu tun hatte?
Was vor ihm stand, war strahlende
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