Jäger der Nacht
Gestalten erzählten ihm, daß er dazugehörte. Millie. Jake. Miss Gotter. Sogar Mr. Graham. Sie drückten es nie so aus. Vielleicht wußten sie es nicht einmal. Aber in der Hafenstraße, da bewegte er sich in heimatlichen Gefilden. Er stand in den Einfahrten der Lagerhäuser und wartete auf so etwas wie seine Verwandtschaft. Und er konnte sich zurückgleiten lassen in seine eigene Vergangenheit. Vor Mr. Grover – noch nicht einmal bei Sam – hatte er nie geglaubt, überhaupt eine zu haben. Aber jetzt...
Er wackelte mit seinem Arsch. Ja. Er wackelte mit seinem Schwanz, und er wackelte mit seinem Mund. Er tauschte sein Fleisch gegen eine neue Art von Bewußtsein ein. Er vermählte sich mit diesen stummen Gestalten und entdeckte, daß sie gar nicht so stumm waren. Ihre Stimmen durchdrangen das Schweigen nach jedem Orgasmus. Er plünderte die Erinnerungen älterer Männer.
Von einem untersetzten Mann mit tiefer, schwerfälliger Stimme erfuhr er vom London der Kriegszeit. Das Aufheulen der Sirenen. Der Geruch von Trümmern und Tod. Die verzweifelten, gelegentlichen Treffen, wenn Verdunkelung oder Fliegeralarm war. Das Wimmern und Einschlagen von Bomben ganz in der Nähe. «Man dachte sich damals», sagte der Mann, «daß, wenn man schon diese Welt verlassen müßte, man etwas erregende Wärme mitnehmen sollte. Heute ist das anders. Wir glauben, viel Zeit zu haben.» Er streckte seine Hand aus und legte sie zärtlich auf Kevins nackte Schulter. «Nun, du hast Zeit, junger Mann. Nur – jedesmal, wenn ich einen kleinen Schmerz in meiner Brust fühle, glaube ich, wieder zurück in London zu sein.»
Von einem Mann, der ihn in einem Cadillac mitnahm, erfuhr er vom New York der 30er Jahre – von der Essensausgabe im Central Park West und wie die Jungs, für einen Hamburger und um einen Platz zum Schlafen zu haben, mit den Freiern nach Hause gegangen waren. Er hörte von einem bärtigen ‹Rasputin›, der in einem Cafe in der 7. Avenue von Greenwich Village Hof gehalten und im Villager eine Kolumne über schwules Leben geschrieben hatte. Kevin war ungläubig. «In den 30ern?» Er versuchte, seine Gedanken zurückschweifen zu lassen; aber die Gestalten in seiner Fantasie waren schemenhaft. Dennoch war er davon überzeugt, daß es sie gab.
Er wurde von einem reisenden Prediger aufgepickt, der aus dem bergigen Hinterland von Georgia kam und mit ihm betete, bevor sie sich auszogen. Später, nachdem er ihm den «wahren Heiligen Geist» eingeblasen hatte, machte er Kevin eine große Freude damit, daß er ihm unglaubliche Geschichten davon erzählte, wie es die Hinterwäldler miteinander trieben. «Daran ist nichts Schlimmes. Nur Sodomie ist eine Sünde, weil es die Bibel so sagt.»
Er lernte alles über die Holzfäller in Alaska und über den Nutzen einer Regentonne. Er wurde über ein Tätowier‐Studio in der State Street von Chicago belehrt. Und er wunderte sich über die Vielseitigkeit des YMCA, des Christlichen Vereins Junger Männer.
Je mehr er erfuhr, desto mehr änderte sich seine Vorstellung von der Stadt. Er bewegte sich, unsichtbar unter den Unsichtbaren... verschleierte Persönlichkeiten, aber sie waren da... und waren freundlich. Lenny. Mr. Grover. Der Junge am Jefferson Square. Die anderen Begegnungen in der Nacht, so verstohlen enthüllt. Wie viele andere? Er benutzte seine Augen, wie er sie nie zuvor benutzt hatte, mit forschendem Bück, so wie Lennys Blick forschend gewesen war, und er suchte Gesicht nach Gesicht auf Zeichen des Wiedererkennens ab. Doch wenn er auf der Straße oder in den Gängen der Schule ein Paar antwortende Augen fand, dann wandte er hastig seinen Blick ab. Es war genug, lediglich zu wissen, daß es sie gab.
Doch konnten einige dieser antwortenden Blicke beunruhigend hartnäckig sein. Der alte Mr. Rocco vom Süßwarenladen begann, ihm kostenlos Schokolade zu geben und ließ nicht nach, ihn ins Lager einzuladen, bis Kevin schließlich den Laden überhaupt nicht mehr betrat und seine Sachen drei Blocks weiter in der Houghton Street einkaufte. Einer von der Pausenaufsicht in der Schule lud Kevin zu einer Cola ein und leckte sich dabei die Lippen. Aber was ihn am meisten beeindruckte, und ihm gleichzeitig Angst machte, waren die Straßen. In der Houghton Street nahe dem Friedhof fiel er einem Mann auf. Der Mann hatte einen Anzug an, trug einen Aktenkoffer und sah nicht schlecht aus. Wenn der Mann mit seinem Wagen in der Hafenstraße gehalten hätte, wäre er eingestiegen.
Aber in der
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