Jäger der Nacht
Houghton Street? Kevin wich seinem Blick aus und strebte seinem Zuhause zu. Aber der Mann folgte ihm weiter, bog sogar direkt hinter ihm in die Burkett Street ein. Kevin hatte Angst. Er konnte dem Mann nicht zeigen, wo er wohnte, sonst würde er noch mitten in der Nacht an die Haustür pochen. Er begann zu rennen, flitzte an seinem Haus vorbei, versteckte sich in einer Gasse in der Nähe von Ginos Haus, während sein Herz vor Angst pochte. Er spähte über eine Mülltonne, sah den Mann vorbeigehen, wartete noch ein Weilchen, kam dann hervor, sah, daß die Luft rein war und lief zurück nach Hause. Aber später, während er darüber nachdachte, fragte er sich, warum er nicht einfach angehalten, sich zu dem Mann umgewandt und ihn gefragt hatte: «Wohin wollen Sie mich mitnehmen?» Vielleicht hätte er dreißig gezahlt und alles über New York City gewußt. Aber dann, Millie oder Jake hätten ihn dabei sehen können, wie er sich an den Mann ranmachte. Und damit könnte er nicht fertig werden.
12. KAPITEL
Es war an einem späten Sonnabendnachmittag Mitte April, als Kevin die Houghton Street entlangging, um Lenny zu treffen. Er wollte ihm die neuen Schuhe zeigen, die Mr. Grover ihm gerade gekauft hatte. Sie waren aus braunem Leder; die ersten Lederschuhe seines Lebens. Obwohl sie an den Füßen etwas wehtaten, wußte er doch, daß er sich an sie gewöhnen würde und daß sie lange halten würden, wenn er sie pflegen würde. Es ging ihm eigentlich nicht darum, Lenny neidisch zu machen; aber er wollte ihm beweisen, daß Mr. Grover wirklich sein Freund war – Freund genug, ihm ein Paar Schuhe zu kaufen.
Er wußte, daß er nicht viel Zeit hatte. Millie würde ihn zu Hause um sechs zum Abendbrot erwarten. Aber früher wollte er nicht zu Hause sein, wo es doch nur dummes Gequatsche gab. Er wollte Lenny treffen. Er dachte, ihn vielleicht auf der Vortreppe sitzend anzutreffen. Aber als er das Haus erreichte, war die Vortreppe leer. Kevin sah sich um. Lenny war nirgends in Sicht.
Er stieg die Vortreppe hoch und ging durch die Haustür. Dort fand er vier Briefkästen und Klingelknöpfe vor. Die Zwischentür direkt vor ihm war verschlossen. Kevin sah zu den vier Klingelknöpfen. Er hatte keine Ahnung‐, wie Lenny mit Nachnamen hieß. Er dachte daran, nacheinander alle vier Klingelknöpfe zu drücken, aber was sollte er sagen? Kennen Sie vielleicht einen Jungen namens Lenny, der einen Ohrring trägt? Ja, und was würden die Leute dann von ihm denken? Er drehte sich um, ging durch die Eingangstür, setzte sich auf die unterste Stufe der Vortreppe und wartete. Vielleicht war Lenny in der Schule aufgehalten worden. Vielleicht würde er bald da sein.
Er beobachtete den Straßenverkehr und die Passanten, die vorbeirauschende Geschäftigkeit der Stadt, und er kam sich irgendwie isoliert vor. Ihm war bewußt, daß er für die Frauen, die ihre Einkaufswagen mühselig an ihm vorbeizogen, nur ein Junge wie jeder andere war, der auf einer Vortreppe saß und wahrscheinlich nichts Gutes im Schilde führte... der plante, einer Frau die Geldbörse zu klauen, einen Betrunkenen auszurauben oder in einem Gemüseladen stehlen zu gehen. Sie hatten wohl keine Ahnung von den anstößigen Dingen, die ihn beschäftigten. Er hütete seine Geheimnisse wie einen Schatz, tief verborgen in den Winkeln seines Bewußtsein , und er sah den Frauen mit ausdruckslosem Gesicht nach.
Zwei Jungen tobten auf dem Bürgersteig. Jung. Vielleicht zwölf oder dreizehn. Als sie zur Vortreppe kamen, sahen sie Kevin prüfend an. «Warteste auf Lenny?» fragte einer der beiden.
Kevin war auf der Hut. «Kann sein.»
Sie tauschten einen Blick untereinander aus, bei dem Kevin reichlich unwohl wurde. «Du hast es wohl nötig, was?» sagte der Größere. «Er wird sich deiner annehmen.»
Kevins Stimme war todernst. «Ich will mit ihm Chemie machen.» Wieder dieser Blickaustausch. «Tja, er ist wahrscheinlich oben.
Warum klingelst du nicht?»
«Wo muß ich klingeln?»
«Versuch’s mit Jenkins», sagte der Größere. Und der Kleinere fügte hinzu: «Hoffe für dich, daß seine Mami nicht da ist. Die stellt sich in letzter Zeit mit ihrem kleinen Lenny ganz schön an.»
«Ja?»
Der Kleinere grinste übers ganze Gesicht. «Ja. Seit sie ihn dabei erwischt hat...», und er zeigte auf den Größeren, «... mit ihm.»
Der Größere ballte die Faust. «Ach, halt die Klappe. Sonst versohl’ ich dich, kapiert?»
«Es stimmt!» Und der Kleinere nahm auf dem Bürgersteig
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