Jäger der Nacht
der Zeitpunkt gekommen wäre und er sich ausziehen würde. Das Ausziehen an sich machte ihn an, besonders, wenn er dabei beobachtet und bewundert wurde.
Der Mann sagte, daß er Grover hieße. Er erwähnte seinen Vornamen nicht, und Kevin fragte nicht danach. So einen alten Mann würde er sowieso nicht beim Vornamen nennen. Mr. Grover lebte in einem Wohnblock, der noch älter als er selbst zu sein schien. In einem wackeligen Fahrstuhl fuhren sie vier Stockwerke hoch und gingen in eine Wohnung, die nach Pfeifenrauch und Möbelpolitur roch. Aber als Mr. Grover das Licht anmachte, konnte Kevin nichts als Blumen sehen – geblümte Vorhänge, eine geblümte Überdecke auf der Couch vor dem Kamin, und Vasen voller Strohblumen auf den Beitischen. Alle diese Blumen drückten eines aus – Frau. Er sah sich um und erwartete fast, aus einer der dunklen Türen eine ältere Frau herauskommen zu sehen, und er fragte sich, was er dann wohl machen sollte.
Aber keine Frau erschien. Nirgendwo in der Wohnung war ein Geräusch zu hören. Er und Mr. Grover waren allein. Nun war er sich voll und ganz Mr. Grovers großer, knorriger, hagerer Gegenwart bewußt. Das gefiel Kevin. Mr. Grover war in seiner lässigen Art ein beeindruckender Mann. Aber Kevin glaubte immer noch nicht, einen Steifen bekommen zu können.
Mr. Grover legte wie selbstverständlich eine Hand auf Kevins Schulter. «Wie wär’s, wenn ich den Kamin anmachen würde?» Kevin sah zum großen Kamin rüber, in dessen Mauerwerk Kacheln eingelassen waren, und sagte: «Gern.»
«Ich mach’ abends gern ein Feuer an. Vertreibt die Kühle.»
Die Wohnung kam Kevin reichlich warm vor, aber vielleicht brauchten alte Leute mehr Wärme.
Mr. Grover hatte schnell ein prasselndes Feuer zustande gebracht; er knipste die meisten Lampen aus, so daß der Schein des Feuers flackernde Schatten im ganzen Zimmer verbreitete. Kevin setzte sich neben Mr. Grover auf die Couch und fragte sich, was als nächstes passieren würde. Er hoffte, daß, was auch immer geschehen würde, es nicht zu schnell eintrat. Ihm gefiel das Feuer; ihm gefielen die Blumen; und ihm gefiel der Klang von Mr. Grovers sanfter, belegter Stimme.
Mr. Grover schien es offensichtlich überhaupt nicht eilig zu haben. Aber Kevin wußte, daß er beobachtet wurde, und ihm wurde warm bei dem Gedanken, daß er begehrt wurde.
Eine abgearbeitete Hand berührte sein Knie. «Möchtest du eine Brause?»
«Ja, danke.»
Mr. Grover verschwand durch eine der Türen und kam mit einer Brause für Kevin und einem Bier für sich zurück. Er machte es sich auf der Couch bequem und seufzte schwer. «Die Welt wird immer verrückter. Das Radio... bah !... bla, bla, bla. Hab’s rausgeschmissen.»
Kevin sah sich im Zimmer um. «Ich kann keinen Fernseher entdecken.»
Mr. Grover seufzte wieder. «Hab’ mit meiner Frau oft ferngesehen.»
Kevin sah schnell zu den dunklen Türen. Ja – vielleicht schlief sie. Vielleicht kommt sie gleich heraus. «Wo ist sie jetzt?»
«Tot. Seit drei Monaten.»
«Oh.» Kevin fühlte, wie die Leere der Wohnung plötzlich eine gewisse Kühle ausstrahlte. «Tut mir leid.»
Mr. Grover starrte ins Feuer. «Nun... bin ich frei. Nach 35 Jahren bin ich frei.»
«Wofür?»
Die Stimme des alten Mannes war heiserer denn je, kaum zu hören. «Für Jungs. Jungs wie dich. Jetzt kann ich sie mit nach Hause bringen.» Er fuhr sich mit der Hand übers Genick, als ob es steif wäre und er es auflockern wollte. «Ich hasse Hotelzimmer.»
«Kenne ich», sagte Kevin. «Geht mir genauso.»
Mr. Grover antwortete nicht. Nur das prasselnde Feuer war in der Stille zu hören.
Kevin erhob sich von der Couch und stellte sich vor Mr. Grover hin. «Ich bin ein Junge. Ich bin hier.»
Zielstrebig streckte der Mann einen Arm aus und tätschelte Kevins Hüfte. «Ist schon gut. Ich möchte dich nur bei mir haben.»
«Das ist alles?»
«Das ist alles.»
Kevin war verwirrt und versuchte es zu verbergen. Das ist alles? Der Mann wollte keinen Sex mit ihm? Noch nicht mal seinen Körper sehen? Stimmte vielleicht was nicht mit seinem Körper? Wo war all die Macht geblieben, die er gespürt hatte? Sie schien jedenfalls auf Mr. Grover keinen Einfluß zu haben. Er dachte daran, aus der Wohnung zu rennen und den alten Mann da sitzen zu lassen mit der Erinnerung an seine Frau... und an all die anderen Stricher, die er aufgelesen hatte. Ihn seinem Wunsch zu überlassen, wieder im Savoy Hotel zu sein. Aber hatten denn die anderen Stricher schönere
Weitere Kostenlose Bücher