Jäger der Nacht
rufen. Der Zorn saß besonders tief, weil er gegen ihn selbst gerichtet war. Was hatte er nur im Greystone Park angerichtet? Seine Fäuste waren auf dem Mann gelandet, den Bruce geliebt haben mußte.
Kevin setzte sich auf ein gemauertes Geländer, das einen dieser Wohnblocks umgab, und dann kamen die Tränen.
«Was ist los, junger Mann?»
Kevin sah von seinem Platz auf dem Geländer auf. Durch den Schleier seiner Tränen sah er eine ältere Frau. Nicht so alt wie Tante Charlotte, aber mit adrett gekämmtem, grauem Haar und tiefen Furchen im Gesicht. Sie führte einen Hund aus, der wie ein Mop aussah.
«Nichts», schniefte Kevin, «Alles.»
Die Frau lachte leicht auf. «So ist das nun mal für gewöhnlich.»
«Nur ist es diesmal wirklich schlimm.»
«Und dann wird es wieder gut.»
Kevin schüttelte seinen Kopf. «Diesmal nicht.»
Die Frau setzte sich neben ihn und klopfte ihm auf die Schulter, während der Hund Kevins Füße neugierig beschnüffelte, «Weißt du, als mein Mann starb, hab’ ich mich genauso gefühlt. Alles wurde einfach so grau. Die Welt hatte keine Farbe mehr. Dann, nach einiger Zeit, wurde mir bewußt, daß sich was ändern müßte. Da bin ich ausgegangen und habe einen Strauß Blumen gekauft, kunterbunte Blumen, und ich habe sie in eine Vase neben das Bild meines Mannes gestellt. Und von da an habe ich begonnen, wieder die Welt zu sehen.»
Kevin wischte sich die Augen mit seinem Hemdsärmel. Die Frau kramte in ihrer Handtasche herum und gab ihm ein Papiertaschentuch. «Hier, das wird dir helfen.»
«Danke.» Kevin schneuzte lautstark und stopfte das Tuch in seine Hosentasche.
«Fühlst du dich jetzt besser?»
«Ein bißchen.»
«Du bist nicht verletzt, nicht wahr? Ich meine... körperlich?»
«Nein.» Das war alles, was er sagte. Er hatte den verzweifelten Wunsch zu reden, aber... mit einer Frau? Immerhin, ihre Stimme klang sanft und mild in der Abendluft, und er dachte an Tante Charlottes Stimme in der dämmerigen Wohnung, an die Stimme, die so ganz selbstverständlich verständnisvoll gewesen war. Aber was sollte er ihr sagen?
«Hast du einen Freund verloren?» fragte sie. Kevin nickte.
«Manchmal glauben wir, jemanden verloren zu haben, ohne daß es wirklich so ist.»
«Aber ich hab’s wirklich!» sagte er, und er fühlte, wie sich seine Augen wieder mit Tränen füllten.
Das Schweigen der Frau war eine Einladung. Er schluckte und versuchte, sich zu beruhigen. «Ich hab’ was Schreckliches getan.»
«Das passiert uns allen gelegentlich.» Dann, sanft: «Weiß dein Freund, was du getan hast?»
«Ja, ich glaub’ schon. Ich glaub’, er weiß es jetzt.»
«Aber du bist dir nicht sicher?»
«Nein, ich bin mir nicht sicher.»
«Es ist vielleicht besser, wenn du es ihm sagst, bevor er es von jemand anders hört. Das heißt, wenn er es ohnehin nicht schon weiß.»
«Ihm sagen?» Er schüttelte heftig seinen Kopf. «Das kann ich nicht tun! Ich... ich... brächte die Worte nicht raus.»
«Ich weiß. Aber... wenn du darüber nachdenkst, möchtest du es vielleicht doch versuchen.»
Kevin wurde von nervöser Sorge ergriffen. «Ich muß los.» Er stand auf. «Aber danke... danke für das Taschentuch... danke, daß Sie mit mir gesprochen haben.»
«Viel Glück», sagte sie und ging langsam mit ihrem Hund die Straße runter.
Es kam Kevin nicht so vor, daß Millie und Jake mitbekommen hatten, daß er übers Wochenende außer Haus gewesen war. Der Abend schlich dahin; Jake nuckelte an seinem Bier, Millie an ihrem Halb und Halb, und keiner außer dem Fernseher sagte irgendwas. Kevin fühlte sich so allein gelassen, als wäre er auf einem anderen Planeten; sein Magen revoltierte, und er dachte zumeist an die Frau mit dem Hund... an das Unmögliche, was sie vorgeschlagen hatte, und an den hoffnungsvollen Schimmer am Horizont.
Als die Elfuhrnachrichten kamen, war Jake in seinem Sessel eingeschlafen und Millie auf der Couch in Volltrunkenheit versunken. Nur Dennis starrte unverwandt auf den Fernseher. Kevin fühlte sich trostlos und machte sich auf den Weg zur Bodenkammer, um ins Bett zu gehen. Der Raum war immer noch heiß von der Sonne, die tagsüber geschienen hatte, aber eine leichte, kühle Brise kam durch die Fenster herein. Er knipste die Lampe an, setzte sich aufs Bett und blätterte in seinem Geschichtsbuch herum, aber die Bilder schienen weit entfernt zu sein, und der Text schien keinen Sinn zu ergeben. Welches Geschichtsbuch könnte beschreiben, was er gerade durchmachte?
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