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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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angenommen und ihn an die Hand genommen hatte. Konnte er nun dasselbe für einen Jungen tun, den er kaum kannte und dessen Leben, sofern es Bruce betraf, nicht nur auf der anderen Seite der Stadt gelebt wurde, sondern auf der anderen Seite des Mondes? Er hatte Kevins Körper erforscht, aber er hatte nur den Schatten einer Ahnung, was sich dahinter verbarg.
    Er hatte ein Bild von Kevin vor Augen, wie sie nebeneinander am Rand des Kanals gesessen hatten. Seine Augen hatten, soweit der Blick reichte, den Kanal mit einer Neugierde und Aufnahmebereitschaft erforscht, die so offen war wie später seine Arme. Er hatte zugehört, wie Bruce weitschweifig vom Niedergang seiner Familie berichtet hatte, und ihn mit allerhand Fragen bestürmt, die ihm gerade in den Sinn kamen. Was immer Kevin auch schon hatte, er wollte noch mehr. Bruce fragte sich, was er selbst zu geben hatte.
    Am nächsten Montag nahm Bruce sein Mittagessen im Kaufmannsklub ein; er genoß zwei Martinis und eine großzügige Portion Sauerbraten. Reuevoll ging er in sein Büro zurück, um sich mit dem zähen Verkauf von städtischen Pfandbriefen auseinanderzusetzen. Während er verschiedene Telefonate führte, in dem Versuch, bei einigen Anlegern etwas Interesse zu wecken, erhielt er einen Anruf von einem guten Bekannten, Chuck Ryerson, der für eine kleine, aber rührige Investmentfirma in New York City arbeitete. Es war einer von Chucks überfallartigen Anrufen, in denen er von den großartigen Dingen berichtete, die sich in der großen, großen Stadt taten, und davon, wie die Pläne für eine Pfandbriefabteilung «tatsächlich Gestalt annahmen», und in denen er sich erkundigte, ob Bruce nicht daran denke, den großen Sprung nach New York zu wagen. Bruce fühlte sich zwar geschmeichelt, blieb aber unverbindlich. «Halt mich auf dem laufenden» und so. Das Geld klang vielversprechend, aber wie sollte er mit all den Familienerbstücken umziehen? Außerhalb ihrer angestammten Umgebung würden sie vielleicht zu Staub zerfallen. Bruce, der Letzte der Linie, hätte damit in seiner Aufgabe als Bewahrer versagt.
    Der Nachmittag zog sich dahin. Immer wieder ertappte sich Bruce dabei, wie er aus dem Fenster starrte und über Kevin nachdachte, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wie er sich nach ihm regelrecht verzehrte. Jedesmal, wenn er sich dabei ertappte, riß er sich zusammen und führte wieder ein Telefonat. Aber nachmittags um vier kam er zu dem Schluß, daß die Unentschiedenheit der Anleger nicht zu durchbrechen sei und daß er ebensogut nach Hause gehen könnte.
    Er legte seine Papiere zusammen und räumte seinen Schreibtisch auf, als das Telefon klingelte. Es war Miss Harkins. Sie klang besorgt. Charlotte sei mit einem Herzanfall ins Krankenhaus eingeliefert worden, und ob Bruce sie nicht so schnell wie möglich im Krankenhaus treffen könne?
    «Ich bin sofort da», sagte Bruce.
    Als er das Krankenhaus erreichte, wartete Miss Harkins in der Eingangshalle. Tante Charlotte war bereits für tot erklärt worden. Er setzte sich neben die in Tränen aufgelöste Frau – die wie immer korrekt aussah mit ihrem an eine Pillendose erinnernden Hut, ohne den sie nie das Haus verließ – und zündete sich eine Zigarette an.
    «Sie hat nicht gelitten», murmelte Miss Harkins.
    «Es ist wohl besser, wenn ich die Kirche anrufe.»
    «Das hätte sie gewollt.»
    «Wie heißt der Küster?»
    «Mr. Coburn.»
    In den darauffolgenden Tagen fühlte sich Bruce von einer Art geheimer Bruderschaft von Rechtsanwälten, Ärzten, Priestern und Leichenbestattern mit Beschlag belegt, die ihren geheimnisvollen Riten von Zeichen und Symbolen und Geheimwörtern mit feierlicher Schwülstigkeit nachgingen. Und im Mittelpunkt all dieser Rituale stand Bruce und fühlte sich leer und verlassen.
    Bei der Beerdigung saß Bruce in der episkopalen St. Timothys Kirche in der ersten Reihe, gemeinsam mit seinem Vetter Malcolm, den er seit über einem Jahr nicht gesehen hatte, und mit Malcolms Frau Esther, die er verabscheute. Tante Charlottes Mahagoni‐Sarg stand kaum mehr als eine Armlänge entfernt vor dem Altar. So wie sie es gewünscht hatte, war der Sarg verschlossen. Tante Charlotte wollte auf ihrem Letzten Weg nicht gestört werden.
    Leise erklang Musik, und die Worte des Priesters waren einschläfernd. Die Kerzen auf dem Altar spiegelten sich in dem mit dunklem, poliertem Holz ausgestatteten Altarraum wider. Jeder Bogen, jeder Fries, jede Schnitzerei in dem Gewölbe war ihm seit seiner Kindheit

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