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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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vertraut, als er während langer und langweiliger Predigten die Decke mit seinen Augen erforscht hatte. Seine Mutter, neben ihm sitzend, hatte diese Beschäftigung mit der Decke mißbilligt, aber er hatte sich durch seinen Vater bestätigt gefühlt, der neben ihm saß und dasselbe tat. Er hatte seine Mutter im Verdacht, die Predigt des Pfarrers für genauso langweilig zu halten wie sie beide, aber daß in der Stiftskirche der Familie, wo Gott ein wohlwollendes Auge auf die wechselnden Generationen hatte, ein aufmerksames Verhalten verlangt war.
    Sogar jetzt, als er neben seinem Vetter saß, fühlte Bruce das Gewicht der Familie auf sich lasten, deren geisterhafte Erscheinung durch die Nischen der Kirche zu schleichen schien, genauso, wie er ihre Gegenwart am Kanal damals mit Kevin gespürt hatte. Aber hier bewegten sie sich mit der Selbstverständlichkeit von Eigentümern, nur knapp unter den Engeln angesiedelt. Zu seiner Linken erstrahlte das Gedenkfenster, das an seinen Ur‐Großvater erinnerte, im Rot und Blau des Heiligen Johannes von Patmos. Die Orgel, die den Trauernden zu nachdenklicher Einsicht verhalf, mit Themen aus Faurés Requiem, war ein Geschenk seiner Großtante Maude. Rechts konnte man den Eingang zur Sterling‐Kapelle erkennen, gebaut für die Vertraulichkeit der Taufe oder die Zurückgezogenheit zum inbrünstigen Gebet; sie war von einem zweifelhaften Vorfahren namens John Sterling gestiftet worden, einem exzentrischen und sehr reichen Junggesellen, der, nachdem er seinen episkopalen Gott bedacht hatte, seine möglichen Erben verstimmt hatte, indem er den Löwenanteil seines Vermögens testamentarisch einem Obdach für verarmte Zeitungsjungen vermachte. Bruce hatte sich stets über John Sterling gewundert. Sogar in Tante Charlottes Familienalbum hatte es kein Bild von ihm gegeben. Noch hatte sich Tante Charlotte an irgendwelche Geschichten erinnert, außer an die merkwürdigen Bestimmungen in seinem Testament. Aber Bruce fühlte sich vielleicht stärker verwandtschaftlich zu ihm hingezogen als zu jedem anderen, ausgenommen der aufgebahrten Gegenwart von Tante Charlotte.
    Als er dreißig war, hatten sowohl seine Mutter als auch sein Vater innerhalb von sechs Monaten aufgebahrt in diesem Altarraum gelegen. Sein Vater war zuerst gestorben; Enttäuschungen hatten sein Blut in Wallung gebracht und einen Blutsturz in seinem Schädel ausgelöst. Er starb an den Erwartungen, die andere in ihn setzten, und die ihn noch über das Grab hinaus verfolgten – und ließ Bruces Mutter in Einsamkeit verblühend zurück, was dazu führte, daß sie an einer Vielzahl kaum zu erklärender weiblicher Krankheiten litt und so ganz sanft ihrem Mann folgte. Sogar als seine Mutter sterbend darniederlag, war sich Bruce wie ein Eindringling in das nur seinen Eltern eigene Reich vorgekommen. Während seiner Aufenthalte bei Charlotte hatte er sich heimischer gefühlt.
    Er ging von der Grabstelle weg, die schwatzende Esther neben sich. Esther redete immer. Über die Pflege des Rasens. Über die Arbeit in der Kirche. Über ihre Kinder und Malcolms Prostata. Bruce hörte nicht zu. Die Schönheit des Blätterwerks gab ihm das Gefühl noch größerer Trostlosigkeit. Aus dem Grau seiner Gedanken tauchte nur eine Farbe auf... die Farbe von Kevins Haut, wenn sie sich voller Erregung rötete.
    Plötzlich war seine Sehnsucht nach Kevin nahezu übermächtig. Bild um Bild kreiste in lüsterner Eindeutigkeit durch seine Gedanken, während er mit Esther, die immer noch redete, vorbei an Grabsteinen und blühenden Büschen auf den wartenden PullmanWagen zuging. Die klagende Trauer lag hinter ihm – nun, da Charlotte neben seiner Mutter und seinem Vater begraben lag. In seinen Gedanken gab es jetzt nur noch ein wollüstiges Lebensziel – Kevin.
     
    An jenem Abend trennte er sich von der schnatternden Herde entfernter Verwandter und führte Miss Harkins zum Abendessen aus. Es war ein schweigsames Mahl. Miss Harkins befand sich immer noch in einem Schockzustand und sprach stockend. «Ich bin so froh darüber, daß Sie Ihre Tante besucht und diesen netten jungen Mann mitgebracht haben. Kevin... war das nicht sein Name?»
    «Ja. Kevin Stark.»
    «Er hat sie auf das Wunderbarste aufgemuntert.»
    «Das freut mich. Er muntert auch mich auf.» Aber Bruce beeilte sich, das Thema zu wechseln. Er fragte sie, ob sie Verwandte hätte, zu denen sie ziehen könnte; Charlottes Haus würde verwaist sein. Aber Miss Harkins schüttelte ihren Kopf. Nur einen

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