Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
intensiver, aber, dachte sie, das war ja nicht möglich.
Sie presste sich das nasse Tuch auf Mund und Nase.
»Was haben wir denn da?«, murmelte Nicolai.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er sich bückte und die Alufolie öffnete. »Na so was, ist das sein Abendessen? Ach, ist das romantisch.«
Er zog sie wieder hoch.
»Na komm, dann schauen wir mal nach, wie es ihm geht, ja? Machen wir das?«
Er stieß sie in Richtung Wächterhäuschen. Die Frontseite war zersplittert, jetzt sah sie auch das Blut, Blut überall, auf dem schmalen Tresen, den Ablagen, auf der unteren Hälfte der Rückwand, dem Boden. In der Ecke des kleinen Raums lehnte die Dienstmütze, Schirm nach oben, als hätte man sie dort abgestellt. Sie sah einen hellen Schuh, ein dunkles, feuchtes Hosenbein, einen Arm, eine Hand voller Blut.
»Ich weiß nicht, ob es ihm gut geht, was meinst du?« Nicolai beugte sich ein wenig vor. »Nee, dem geht es nicht mehr gut, Louise. Macht das was?«
In diesem Moment schoss ihr die Angst in die Glieder. Anfangs war alles viel zu schnell gegangen, um Angst zu haben, dann war anderes wichtiger gewesen als die Angst vor dem, was Frank Nicolai ihr antun wollte.
Doch jetzt war sie da.
Sie spürte, dass er sie anschaute. Die Angst drohte sie zu lähmen, machte sie unterlegen, und sie wollte ihm nicht unterlegen sein, wenigstens das nicht. Wenn sie es beschloss, dachte sie, würde sie ihm nie unterlegen sein, würde sogar ein bisschen gewinnen, wenn sie letztlich auch verlieren würde, und dieser Gedanke hatte beinahe etwas Tröstliches.
Aber die Angst blieb.
Sie hob den Blick, sah ihm in die Augen, zum ersten Mal. Ein attraktiver, freundlich wirkender Mann, das breite Kinn, frischer Teint, gleichmäßige Züge, über die Regentropfen liefen. Die Augen waren hell und intensiv, die blonden Haare durchnässt, und tatsächlich, ein charmantes Lächeln.
»Hallo, Louise«, flüsterte Nicolai, und seine gierige Stimme jagte ihr Schauer über den Rücken.
Das Auto, ein alter Renault, hatte ein französisches Kennzeichen. Auf der Beifahrerseite war das Fenster eingeschlagen, Glassplitter lagen auf dem Sitz.
Nicolai öffnete die Fahrertür, warf ihre Handtasche hinein, betätigte einen Hebel. Sie hörte, wie der Kofferraum aufsprang.
Vor Jahren Annetta, jetzt sie.
»Nicht in den Kofferraum«, sagte sie.
»Doch, doch«, sagte Nicolai.
Sie wandte sich um und begann, in Richtung Straße zu rennen. Ein paar Meter, dann spürte sie einen heftigen Schlag gegen das rechte Schienbein und verlor das Gleichgewicht. Sie fing den Sturz mit der linken Schulter auf und blieb liegen. Schmerzen pochten im Schulterknochen, und die Stelle unterhalb des linken Schlüsselbeins, wo vor ein paar Jahren eine Kugel gesteckt hatte, brannte. Mit dem Schmerz kam die Erinnerung. Die Sau lebt, hatte der Mann, der auf sie geschossen hatte, gesagt.
Die Sau, dachte sie, würde weiterleben.
»Na, na, na«, sagte Nicolai. »Denkst du, du kannst weglaufen? Denkst du das, ja?«
»Ja«, sagte Louise.
Er trat ihr mit der Schuhspitze in die Seite, und sie begriff, dass sie erst einmal gehorchen musste, wenn sie nicht so enden wollte wie Eddie und Dietmar Haberle.
Wieder zog Nicolai sie hoch. Er stieß sie zurück in Richtung Auto, öffnete den Kofferraumdeckel. Eine zerschlissene Decke, Warndreieck, Wagenheber lagen darin. Annetta war im Kofferraum in die verschneite Einöde nahe Munzingen gebracht worden. Da war sie schon halbtot gewesen. Vergewaltigt, geschlagen, halbtot.
Aber sie war nicht Annetta.
»Na los«, sagte Nicolai.
Sie hob einen Fuß über den Rand des Kofferraums, ließ sich hineinsinken, kauerte sich zusammen. Ihre Seite schmerzte, und als der Kofferraumdeckel zufiel, blieb ihr für einen Moment die Luft weg. Vollkommene Dunkelheit und das Gefühl, vor Angst und Schmerzen nicht mehr atmen zu können.
Sie dachte an Gérardmer, an Ben Liebermann in Gérardmer.
Die Angst blieb, doch der Atem kam zurück. Ben Liebermann würde nie die Dienstmütze aufsetzen. Besaß keine hellen Schuhe. War an diesem Abend nicht zum Dienst in St. Georgen gekommen.
Sie ahnte, weshalb.
Ben Liebermann und Onkel Pierre, der Absinthexperte.
Zwanzig Minuten Dunkelheit, lange Geraden, erhöhtes Tempo, sie wusste, wohin Frank Nicolai sie brachte. Über dem dumpfen Dröhnen des Motors hörte sie ihn singen, pfeifen, lachen, irgendwann begann er zu sprechen. Was er sagte, verstand sie nicht. Er schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, sich in
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