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Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)

Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Sicherheit zu bringen. Alles, was ihn interessierte, war sie. Das, was er mit ihr vorhatte.
    Irgendwann in diesen Minuten hatte sie begonnen, den Boden des Kofferraums abzutasten. Das Warndreieck und der Wagenheber waren zu groß und unhandlich. Sie hatte sich durch die muffige, feuchte Decke gewühlt, die Ecken und Winkel abgesucht, bislang nichts gefunden als CD-Hüllen, zerknülltes Papier, zwei leere Getränkedosen und eine Schachtel Streichhölzer. Nichts, das sie als Waffe benutzen konnte.
    Und dabei blieb es.

    Auf den letzten Metern wurde die Fahrt holprig, dann hielt der Wagen. Sie hörte, wie Nicolai ausstieg, das Tor der Scheune öffnete. Er kam zurück und fuhr hinein. Sekunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Dann ein Klicken, als das Schloss des Kofferraums geöffnet wurde.
    Sie blieb liegen.
    Nicolai hob den Kofferraumdeckel von der Seite an. Sie sah ihn nicht, sie sah nur, dass er nicht hinter dem Auto stand.
    Dann hörte sie seine Stimme.
    »Der magische Moment, Louise.« Er lachte leise. »Na komm, steig aus. Aber nicht wieder kotzen, bitte.«
    Sie richtete sich auf. Die linke Schulter und die Seite taten weh, der Kopf tat weh, vielleicht wegen des Sauerstoffmangels, vielleicht wegen der pulsierenden Angst. Der Brechreiz kehrte für einen Moment zurück, verschwand wieder.
    Sie atmete tief ein. Die Luft roch nach Stroh, nach Erde, Holz. Nach Regen und Feuchtigkeit.
    Die Flügel des Tors waren geschlossen, in der Scheune herrschte Dunkelheit. Wegen der Wolken draußen drang kein Sternenlicht durch die Scharten und Löcher in den Wänden. Vielleicht half ihr die Dunkelheit. Sie sah Nicolai nicht, aber er sah sie genauso wenig.
    Da sprang das Licht einer Taschenlampe an und legte sich auf ihr Gesicht. Sie schloss die Augen zu einem Spalt.
    Nicolai stand jetzt links neben dem Wagen, zwischen dem Licht auf ihrem Gesicht und der Straße sowie den Häusern von Grezhausen. Auch wenn er nicht fliehen wollte, leichtsinnig war er nicht.
    Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Sie sah nur die Lichtquelle, einen scharf gezogenen, grellen Kreis.
    »Kennst du dieses Gefühl, Louise?«, sagte er. »Als würde alles auf einen einzigen Moment hinauslaufen, das ganze Leben, alles, was man getan oder nicht getan hat, alles, was gut gegangen ist, alles, was schiefgegangen ist. Alles kulminiert in einem einzigen, langen Moment, und was danach kommt, ist uninteressant, weil nichts mehr kommt, nichts mehr mit Bedeutung. Das ist der magische Moment, Louise. Denkst du nicht auch, dass es so etwas gibt?«
    Sie setzte sich ganz auf, hob ein Bein über den Rand des Kofferraums. Sie hatte gedacht, dass die Taschenlampe für sie ein Nachteil war, doch jetzt begriff sie, dass sie ein Vorteil war. In der Dunkelheit hätte Nicolai ein aufflammendes Streichholz gesehen, im Licht der Taschenlampe vielleicht nicht.
    »Denkst du das auch, Louise? Alles, was man getan und nicht getan hat. Zwanzig Jahre Langeweile an der Seite einer Frau, in einem langweiligen Job. Dann der Abend bei Michael … Du hast davon gehört, oder? Hat Hans dir davon erzählt? Du warst bei ihm, ich habe euch gesehen, ich war nicht mal fünfzig Meter von euch entfernt, Louise, als ihr in sein Haus seid, ihr wart schneller als ich, aber auch das gehört dazu, rückblickend betrachtet, verstehst du? Zu dem einen Moment, Louise, der hier seinen Höhepunkt finden wird, der allem einen Sinn gibt, der erklärt, warum in all den Jahren das eine passiert ist und das andere nicht. Weil ihr schneller wart als ich, sind wir beide jetzt hier – siehst du jetzt, was ich meine?«
    Sie rutschte näher an den Rand. Daran hatten sie nicht gedacht – dass er schon in Herdern gewesen war. Dass er die ganze Zeit da gewesen war, während sie mit Meirich gesprochen hatten.
    »Mit dem Abend bei Michael hat der Moment angefangen, Louise. Das Mädchen am Martinstor, ihre Flucht, dass ich den Jungen und später Dietmar töten musste, dass ihr mich in Colmar fast erwischt hättet, all das war ein Teil dieses Momentes. Nur darum ging es die ganze Zeit, als würden in irgendeinem Schicksalsbuch zwei Linien eingezeichnet sein, die aufeinander zulaufen – deine und meine, Louise. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ja«, sagte sie und entzündete im Schutz des Kofferraumrandes mit einer kurzen Bewegung der Finger ein Streichholz.
    »Du denkst, du kannst mich in Sicherheit wiegen, richtig? Das denkst du doch, Louise?«
    Sie legte das Streichholz auf das zerknüllte Papier. »Ja.«
    Nicolai

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