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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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der Soldaten.
Ben lief nach rechts, einen Korridor hinunter, ich nahm die schmale
Treppe nach oben.
    •
    Ich habe Mühe, das, was sich in den nächsten Stunden an
Bord der Lemuria abspielte, auf die Reihe zu bringen. Ich
möchte wahrheitsgemäß darüber berichten, aber
selbst damals war die Wahrheit ein seltenes Gut. Ich war besser dran
als viele andere, denen ich begegnete, aber nach fünfzehn oder
zwanzig Minuten schwitzte ich wie ein Eisblock in warmem Sumpfwasser.
Innerlich fühlte ich mich eiskalt, doch meine Haut war
heiß und feucht und mein Atem roch – jedenfalls kam es mir
so vor – so streng wie heißer Teer.
    Ich fühlte mich durchaus glücklich, allerdings nicht so
glücklich, dass ich über meinen Zustand hätte lachen
können.
    Anfangs hatte ich keine Angst. Mich hatte eine Art Pioniergeist
erfasst. Ich war wie der Parasit in einer Ameise, der in Erwartung
weiterer Metamorphosen auf den hungrigen Vogel wartet. Ich wusste nur
noch nicht, wie mein Vogel aussehen würde.
    Ich wusste allerdings, dass ein Trupp von Marineinfanteristen in
durchnässten, stinkenden Uniformen, der sich mit
Küchenpersonal in Kochmützen und schleimbefleckten
Schürzen verbrüdert hatte, nicht das war, wonach ich
Ausschau hielt. Ganz im Gegenteil: Ich musste diese Leute meiden.
Freudig kreischend, schossen sie eine riesige, von einer
Barverkleidung herunterbaumelnde Skulptur in Fetzen und wichen mit
kindlichem Gejohle den herabfallenden Glasdolchen aus.
    Rote, grüne und blaue Scherben bedeckten die Tanzfläche.
Einer der Marinesoldaten hatte nicht schnell genug ausweichen
können: Ein langer blauer Glassplitter hatte seinen Oberschenkel
durchbohrt und ihn am Holzboden festgenagelt. Entsetzt betrachtete er
sein Missgeschick, dann fiel er in das Lachen der anderen mit ein und
rutschte auf dem Hosenboden im Kreis, wodurch die Glasscherbe sich
bog und ihm ins Fleisch schnitt. »Wer will darauf wetten, wann
sie bricht?«, rief er.
    Gewehrfeuer und fröhliches Gebrüll erklang aus dem
tropischen Garten unter einer Glaskuppel. Marinesoldaten und Jungs
von der Küstenwache hatten zwei Lager gebildet und benutzten
einander als Zielscheiben. Punkte wurden vergeben, und noch
während ich zuhörte, dezimierte das Gewehrfeuer die Zahl
der Stimmen. Am besten, ich mied diesen Bereich völlig. Ich
trabte weiter und durchquerte das Schiff bis zur Steuerbordseite des
A-Decks, soweit ich mich erinnere.
    Ich lief durch einen mit Teppichboden ausgelegten Korridor, dessen
Wände mit Granitplatten in goldenen Halterungen ausgekleidet
waren. Es sah hier wunderschön aus, fast so wie in einer engen
Felsenschlucht, aber ich konnte den Anblick nicht genießen. Da
meine Benommenheit allmählich wich, kamen auch die Sorgen
zurück. Ich dachte an Piecework, Chopper und Regulus. Vielleicht war mein Bruder doch nicht so schlau gewesen, wie alle
gedacht hatten, Lissa eingeschlossen.
    Vielleicht hatten uns die genetischen Selbstversuche rein
zufällig für die biochemisch induzierte Gehirnwäsche
auf der Lemuria unempfänglich gemacht.
    Vielleicht hatte er sogar gewusst, dass mich meine
Genmodifizierungen schützen, die anderen jedoch der
Gehirnwäsche ausgeliefert sein würden.
    Ich trat auf eine Art Balkon hinaus (ich hatte nicht die leiseste
Idee, wie der nautische Ausdruck dafür lautete), der unter einem
riesigen, ausladenden Flügel hervorragte, von dem ich annahm,
dass er ein Teil der Brücke war. Das bedeutete, dass ich mich
direkt vor dem Aristos-Turm befinden musste.
    Vom Balkon aus überblickte man die Steuerbordseite des Bugs,
eine lang gestreckte, von Fensterreihen durchzogene Felswand
über dem grauen Meer. O Gott, es wurde spät. Der Himmel im
Osten war bereits dunkel und der Horizont im Westen war mit den
letzten flammenden Strahlen des Sonnenuntergangs überzogen. Wie
die Zeit dahingeflogen war, wie sich mein Zeitgefühl verzerrt
hatte! Ich blieb dort eine Weile stehen, genoss die frische Luft und
entschied mich schließlich gegen einen Fluchtversuch. Ich
würde Goncourts Krankenhaus auf eigene Faust finden.
    Ich hatte ein paar Fragen, die ich dem Meister persönlich
stellen wollte. Ich würde ihm meinen Respekt von Angesicht zu
Angesicht erweisen und mich dann ergeben. Die Geschichte hatte den
Sieg davongetragen, so einfach war es eben. Maxim Golochow
verkörperte das zwanzigste Jahrhundert, verkörperte auch
meine Geschichte. Und er hatte diesen Krieg zweifellos gewonnen,
einen Krieg, den ich von Anfang an nicht gewollt hatte.
    Als ich

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