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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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öffnete ich den Koffer und blätterte Robs
Aufzeichnungen nochmals durch. Dabei stieß ich auf ein kleines
Luftpostcouvert, das fünf dünne blaue Briefbögen
enthielt, beidseitig beschrieben. Mein Blick fiel auf Kolonnen von
Nonsens-Worten, die aus jeweils drei Buchstaben bestanden:
Abkürzungen für die zwanzig natürlichen
Aminosäuren, die in Proteinen vorkommen. Ich legte die Seiten
nebeneinander auf den Schreibtisch. Sie mochten – richtig
angeordnet – von links nach rechts, von oben nach unten oder auf
irgendeine andere Weise gelesen, eine oder mehrere Peptidsequenzen
bezeichnen. Jedenfalls handelte es sich um ein Puzzle oder einen
Code. Wieder und wieder änderte ich die Anordnung, las die
Blätter bei jeder neuen Anordnung auf unterschiedliche Weise und
versuchte etwas zu finden, das mir bekannt vorkam. Ohne Erfolg.
Schließlich schob ich die Blätter wieder in das kleine
Couvert zurück.
    Aus einem der getippten Manuskripte lugte halb ein Brief hervor,
der in russischer Sprache abgefasst und mit Füllfeder
geschrieben war. Als ich daran zog, fiel er zusammen mit einem
angeklammerten Luftpostumschlag heraus. In dem Couvert steckte ein
vergilbtes, zerfleddertes Polaroid-Foto, das mich und meinen Bruder
zeigte. Breit grinsend standen wir auf irgendeiner belebten
Straße. Es sah nach einer Großstadt aus, die in Europa
liegen mochte. Offenbar hatte Rob das Foto als Andenken aufbewahrt,
was mich rührte. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wo das Bild
gemacht worden war.
    Vielleicht konnte Banning den Brief übersetzen.
    Doch wollte ich das überhaupt? Falls er irgendetwas vor mir
verbarg, wie konnte ich ihm dann vertrauen? Andererseits: Wenn er den
Inhalt des Umschlags hätte lesen wollen, hätte er es dann
nicht schon längst getan?
    Ich schob die Frage vorläufig beiseite und las dort, wo ich
aufgehört hatte, im Tagebuch weiter.
     
    Die Parasiten zwingen den Darmzellen und Hautzellen ihren
Willen auf, die Bakterien kommunizieren mit ihnen. G. geht zu Berija,
Berija geht zu Koba. Berija war viel mehr als nur der Chef des
Staatssicherheitsdienstes. Koba sollte ihn später zum Leiter der
Atomwaffenforschung ernennen. Diese Sache jedoch versprach noch
größere Wirkungen als die Atombombe. Berija berichtet
Koba, Golochow könne eine Direktleitung in die menschliche
Psyche legen, die beliebig zu nutzen sei.
    G. trägt seine Angelegenheit vor. Koba begreift sofort; G.
erhält Forschungsgelder, Assistenten und ein mit allem
Schnickschnack ausgestattetes industrielles Labor in Irkutsk. So viel
ist klar. Ch. und T. pflichten mir stillschweigend bei, dass es sich
so zugetragen hat: Die Frage, auf die sie nicht antworten, lautet:
Wie hat G. Lysenko überlebt? Wenn ich ihnen meine Vermutungen
schildere, lächeln sie vieldeutig. Sie verbergen eine Menge,
doch das geschieht mit einem typisch russischen Schuldgefühl. Es
ist ihnen peinlich, denn eigentlich wollen sie ja gar nichts
verbergen, glaube ich.
     
    Ich versuchte, mir die russische Geschichte während der
Stalin-Ära ins Gedächtnis zurückzurufen. Berija war
nach Stalins Tod exekutiert worden. Doch was, zum Teufel, hatte das
mit unseren Forschungsprojekten zu tun? Uns ging es doch um die
Verlängerung des Lebens, nicht um Gedankenkontrolle.
     
    War es das schlechte Gewissen, die Suche nach der Wahrheit oder
sonst etwas: Jedenfalls beschlossen Ch. und T., mich zu einem Ort
außerhalb von Irkutsk zu bringen. Mit einem verbeulten
Lastwagen der Marke Opel fuhren wir in eine Gegend, die rund
fünfzig Kilometer außerhalb von Irkutsk liegt. Als wir das
Tor in einem Drahtzaun passiert hatten, ging es an einem Teich und an
einem Wald mit sechzig, siebzig Jahre alten Bäumen vorbei. Ein
Sandweg, links und rechts von aufgerissenem Asphalt und
Pflastersteinen gesäumt, brachte uns schließlich in eine
Geisterstadt. Solide gebaute Stein- und Backsteinhäuser,
Holzhäuser, gepflasterte Straßen. Alles verlassen, die
Fenster leere Höhlen.
    »Das ist die Stadt der Hundemütter«,
erklärte T. mir in seinem gebrochenen Englisch. Ich bin mir
sicher, dass ich die Hälfte der Geschichte nicht mitbekommen
habe. Glaube ich das Ganze?
    Berija hat diesen Ort 1938/39 erbauen lassen, als Versuchsfeld
für Silk. G. war involviert – in welchem Maß, wissen
T. und Ch. nicht oder wollen nicht darüber reden. Es gab hier
alles: moderne Stromversorgung und Wasser, ein örtliches
Fernsprechnetz, sogar ein Postamt – komfortabel, aber ohne
Verbindung zu Irkutsk und den umliegenden

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