Jägerin der Nacht 01 - Nightwalker
bleich und rund am Nachthimmel. Es war drückend heiß, und dicke Wolken schoben sich vor die funkelnden Sterne. Ich stand auf dem großen Platz, umgeben von niedrigen grau-weißen Mauern, die aussahen wie die von der Sonne gebleichten Knochen eines ausgestorbenen Ungeheuers. In der Ferne erhoben sich die Berge, gewaltige Kolosse aus Stein und Erde, die Dynastien überdauert hatten und immer noch in den Himmel ragen würden, wenn mein Körper längst zu Staub zerfallen war. Es roch nach üppiger Vegetation, und der Wind trug mir den schwachen Geruch von Blut zu. Ich folgte diesem wunderbaren Duft die Treppe hinauf und gelangte durch einen Torbogen in den angrenzenden Tempel.
Ich blieb ruckartig stehen, und mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich eine Frau erblickte, die auf einem großen grauen Steinblock lag. Ihr langes schwarzes Haar wallte über die Kanten bis auf den Boden. Ihre braunen, glänzenden Augen waren riesengroß und hielten mich in ihrem Blick gefangen. Ein Mann beugte sich mit einem Dolch in der Hand über sie. Obwohl ich mich völlig lautlos genähert hatte, wusste er, dass ich da war.
Er schaute zu mir herüber und grinste. Es war Nerian. Ich wollte zurückweichen, doch ich wurde an den Armen gepackt und gezwungen, stehen zu bleiben. Ich wehrte mich und wollte mich umdrehen, um zu sehen, wer mich festhielt, doch ich konnte niemanden sehen. Schritte hallten durch die nächtliche Stille, und es kamen immer mehr, die mich festhalten wollten. Als ich wieder in Nerians Richtung schaute, kam er bereits auf mich zu. Ich wand mich hin und her und kämpfte gegen meine Widersacher an, doch es gab kein Entrinnen. Mir brach der kalte Schweiß aus, und die Panik hämmerte in meiner Brust.
„Du hast mich verraten", hörte ich die Frau immer wieder leise sagen, mit einem Akzent, der schon lange von der Erde verschwunden war. Ich stemmte die Absätze fest in den Boden, um meine Widersacher zurückzudrängen, konnte jedoch keinen Halt in den Ritzen zwischen den Steinen finden. Ich schob und schob, aber ich bewegte mich nicht von der Stelle.
Nerian kam immer näher, und ich sah seine weißen Zähne in der Dunkelheit aufblitzen. Ich schrie und zerrte, aber ich konnte mich nicht befreien. Er blieb dicht vor mir stehen, und sein Gelächter bohrte sich wie spitze Stacheln in meine Haut. Wenn ich an mir hinunterschaute, würde ich feststellen, dass ich blutete. Er musste doch tot sein! Ich wusste, dass ich ihn umgebracht hatte. Ich hatte seine Leiche verbrannt, und es war nur ein kleines Häufchen weiße Asche in Danaus' Keller zurückgeblieben. Trotzdem stand er nun grinsend vor mir. Ich spürte seine Körperwärme und nahm seinen erdigen Geruch wahr. Er hob den Arm, und sein irres Gelächter wurde immer lauter. Als er mir den Dolch in den Bauch rammte, riss ich die Augen auf und begann erneut zu schreien.
Die ganze Kiste war von meinen Schreien erfüllt, aber ich konnte nicht aufhören. Ich schrie immer weiter und schlug meine Nägel in die rote Seide unter dem Deckel, bis sie völlig zerfetzt war. Ich schrie, bis ich mich an einem Schluchzen verschluckte, das meiner Kehle entsprang. Die Finger in das zerrissene Seidenfutter gekrallt, lag ich ganz still in meiner schützenden Kiste. Meine Armmuskulatur war so angespannt, dass es wehtat, und mein Kiefer begann zu schmerzen, weil ich die Zähne fest zusammenbiss, um nicht von Neuem schreien zu müssen. Blutige Tränen liefen an meinen Schläfen herunter. Als das nächste Schluchzen in mir aufstieg, schluckte ich es hinunter und zwang mich zu entspannen. Es war nur ein Albtraum gewesen.
Nerian war tot, und ich war in Sicherheit.
Langsam löste ich meine Hände von dem Seidenstoff und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Es hatte sich so echt angefühlt. Ich erinnerte mich lebhaft an die Gerüche und den schmerzhaften Griff ihrer Hände. Und was am schlimmsten war: Ich erinnerte mich daran, wie mein Herz geschlagen hatte. Ich legte meine zitternde Hand auf mein Brustbein, doch ich spürte nichts. Atmung und Herzschlag waren lediglich Tricks, mit denen Vampire den Anschein erweckten, lebendig zu sein. Aber es kostete eine Menge Kraft und Energie, und so machten wir uns nur die Mühe, wenn wir Menschen täuschen wollten. Ich selbst griff nie auf diese Tricks zurück, aber als ich nun so dalag, fragte ich mich, ob mein Herz tatsächlich während des Traums geklopft hatte.
Ich hatte seit langer Zeit keine Albträume wegen Machu Picchu mehr gehabt. Einst hatten
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