Jägerin der Nacht 02 - Day Hunter
nackter Körper in die Decken gewickelt.
Zögernd streckte ich die Hand aus und strich ihm ein paar weiche Locken aus der Stirn. Es war immer noch eine Stunde Zeit bis zur völligen Dunkelheit, und bis dahin blieb er in den tiefen Heilschlaf unserer Rasse versunken. Gnädige Dunkelheit umfing seine Gedanken, und zweifellos war die Erinnerung an Sadiras Verrat und mein Versagen vorübergehend weggewischt. Allzu bald würde er sich dieser Erinnerung wieder stellen müssen, aber im Moment gab es für ihn nur Vergessen.
Ich betrachtete seine schöne, kühle und entspannte Gestalt. Ich spürte einen Kloß im Hals und blinzelte aufwallende Tränen fort, die meinen Blick verschwimmen ließen. Mein süßer, schöner Tristan mit dem unsicheren, verspielten Lächeln. Er war zugleich Sohn und Bruder für mich. Dieselbe Nachtwandlerin hatte uns in die Dunkelheit geboren, und daher entstammten wir derselben Blutlinie. Und doch war er so viel jünger und schwächer. Sein ganzes Dasein schien so flüchtig.
Vor fünfhundert Jahren hatte Jabari mich vor Sadira gerettet und mich aus dem Schatten von Schmerz und Verzweiflung geholt. War es meine Aufgabe, jetzt Tristan ebenso zu retten? Wie konnte ich, da ich doch kaum auf mich selbst aufpassen konnte? Sowohl Michael als auch Thorne waren gestorben, während ich zugesehen hatte. War der junge Nachtwandler als Nächstes an der Reihe, egal wie sehr ich mich anstrengte?
Ich strich ihm wieder über das Haar und wünschte mir, dass sein Frieden von Dauer sein könnte. Ich wünschte, dass seine Wunden heilen mochten, die äußeren genauso wie die Narben im Inneren, aber ich fürchtete, dass dieser Wunsch vergeblich war. Nur wenige Nächte zuvor hatte ich James versichert, dass die Nachtwandler mehr als Monster waren. Ich hatte ihm erklärt, dass wir Freude und Liebe empfanden. Hatte das blutige Schlachtfeld, das sie aus Tristans Rücken gemacht hatten, als sie ihm die Haut vom Körper gezogen hatten, diese Behauptung nicht entkräftet? Ebenso wie die Tatsache, dass ich das Blutbad, das ich angerichtet hatte, von ganzem Herzen genossen hatte? Wie konnte es einem Monster je gelingen, ein anderes Monster zu beschützen?
Mit einem beiläufigen Blick registrierte ich, dass sein Rücken sich von der Tortur der letzten Nacht erholt hatte, und sprang aus dem Bett. Noch nie in meinem ganzen langen Dasein war ich so früh aufgestanden. Man hatte mich gerufen. Ich spürte Valerio in meinem Kopf. Das fremde Bewusstsein strömte in mein Gehirn und zog sich dann wieder zurück, wobei es eine schwache Spur auf meinen Lippen hinterließ, als ob er mich geküsst hätte. Mitten im stillen Zimmer atmete ich tief ein und erwartete halb, einen Hauch seines Geruchs einzufangen, was mir mein Gehirn auch für einen Augenblick vorgaukelte, obwohl ich genau wusste, dass er den Raum nie betreten hatte.
Seine Präsenz in meinen Gedanken war so eindrücklich gewesen, dass sie in all meinen Sinnen eine Spur hinterlassen hatte. Aber so war Valerio, still wie ein Schatten und allgegenwärtig wie der Wind. Er war ein Geist aus meiner Vergangenheit, den ich nie ganz loswurde. Andererseits war ich mir nicht sicher, ob ich seinen weitreichenden Arm überhaupt loswerden wollte.
Das Geräusch der ins Schloss fallenden Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken. Ich schnappte mir den knöchellangen seidenen Morgenmantel von dem Sessel, über den ich ihn geworfen hatte, und schlüpfte rasch hinein. Ich war noch dabei, mir den Gürtel des hoteleigenen Morgenmantels zuzubinden, als ich das Wohnzimmer betrat. Danaus schob gerade einen mit weißem Tuch verhüllten Wagen herein, der mit Tellern unter silbernen Abdeckungen beladen war. Ein Dutzend Gerüche von aromatischen Soßen, gekochtem Fleisch und heißem Kaffee erfüllte die Luft. Es war Zeit für das Abendessen beziehungsweise Frühstück. Dem Geruch nach zu urteilen war ich mir sicher, dass der Jäger sich gleich den doppelten Luxus erlauben würde.
Danaus blieb abrupt stehen, und sein Blick schoss von mir zur Fensterfront, die den Blick auf den fernen Sonnenuntergang freigab. Der Himmel war in dunkle Rot-, Orange- und Purpurtöne getaucht. Ich hatte seit Hunderten von Jahren keine solchen Farben mehr am Himmel gesehen. „Hattest du letzte Nacht noch irgendwelchen Ärger?", fragte ich steif. Die Arme um den Bauch geschlungen, ging ich zur Fensterfront und ignorierte die stumme Frage, die in seinen zusammengekniffenen Augen lag.
Das verblassende Sonnenlicht brannte mir in
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