Jägerin des Herzens
Unterlippe. Seine Bartstoppeln fühlten sich unter ihren Fingern wie kratziger Samt an. Kein gefallener Engel hätte eine anziehendere Mischung aus Dunkelheit und Licht sein können. Sie sah die Anspannung auf seinem Gesicht, die auch im Schlaf nicht wich. Er trank zu viel und schlief zu wenig. Und dann hatte auch die alte Trauer ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.
»Wir sind uns in vieler Beziehung ähnlich, du und ich«, murmelte sie. »Stolz, Temperament und Eigensinn. Du würdest einen Berg versetzen, um zu bekommen, was du willst … aber du, mein armer Junge, weißt nicht einmal, wo der Berg ist.« Sie grinste, als sie daran dachte, wie er ihre Kleider aus dem Fenster geworfen hatte.
Aus einem Impuls heraus beugte sie sich über ihn und drückte sanft ihre Lippen auf seine. Sein Mund war warm.
Sie dachte an den intimen, wilden Kuss, den er ihr in der Bibliothek aufgezwungen hatte. Sie hob ihren Kopf wieder und blickte auf ihn hinunter. »Wach auf, schlafender Prinz«, murmelte sie. »Es wird Zeit für dich zu merken, wozu ich imstande bin.«
Alex wurde langsam wach. Irritiert fragte er sich, wer neben ihm wohl auf eine Trommel schlug … bumm … bumm … Sie hallte in seinem Kopf wider. Er zuckte zusammen und drehte seinen schmerzenden Kopf gegen eine kalte, wohltuende Kompresse. »Na«, sagte eine leise Stimme, »geht es Euch wieder gut?« Alex öffnete mühsam die Augen und sah die Umrisse eines Frauengesichts über sich. Er überlegte, ob er wohl schon wieder von Lily träumte.
Es waren ihre goldbraunen Augen und ihr Mund, der zu einem entwaffnenden Lächeln verzogen war. Er spürte ihre weichen Fingerspitzen an seiner Wange. »Verdammt«, murmelte er. »Werdet Ihr mich denn mein ganzes Leben lang verfolgen?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Das liegt an Euch, Mylord. Und jetzt bewegt Euch nicht sonst verrutscht die Kompresse. Euer armer Kopf. Ich habe versucht so sanft wie möglich zuzuschlagen. Aber es musste ja fest genug sein, damit ich nicht ein weiteres Mal zuschlagen musste.«
»W-was?«, fragte er benommen.
Blinzelnd wurde Alex langsam bewusst dass er nicht träumte. Er erinnerte sich daran, dass er durch ihr Haus gestürmt und in ihr Schlafzimmer gekommen war … und dann der Schlag auf den Kopf. Unterdrückt fluchte er.
Lily saß mit gekreuzten Beinen neben ihm, und er lag ausgestreckt auf einem Bett. Obwohl Lily ihn besorgt anblickte, war ein triumphierendes Strahlen in ihren Augen, das bei ihm alle Alarmglocken schrillen ließ. »Henry …«
»Keine Sorge, es geht ihm gut. Äußerst gut.« Sie lächelte beruhigend. »Er verbringt die Nacht bei einem meiner Freunde.«
»Welchem Freund?«, fragte er. »Bei wem?«
Ihr Blick wurde feindselig. »Zieht keine voreiligen Schlüsse, wenn ich Euch etwas erzähle. Wenn ich auch nur den leisesten Zweifel an seinem Wohlergehen hätte, dann hätte ich nie …«
Er bemühte sich, sich aufzusetzen. »Sagt mir, bei wem er ist!«
»Bei Derek Craven.«
»Dieser Ganove, der sich mit Huren und Dieben umgibt?«
»Henry ist absolut sicher bei Derek, ich gebe Euch mein …«
Lily brach keuchend ab und sprang vom Bett als Alex mit einem wütenden Aufschrei nach ihr griff. »Schlampe!«
Seine Knöchel und Handgelenke waren mit den Stricken an den Bettpfosten festgebunden. Heftig warf er den Kopf hin und her, als er sah, was sie gemacht hatte. Dann brüllte er auf und begann wütend an seinen Fesseln zu zerren.
Das massive Bett ächzte und bebte. Wie ein Wilder kämpfte er gegen seine Fesseln an.
Lily beobachtete ihn vorsichtig. Als sie sah, dass der starke Holzrahmen seinem Toben widerstand, entspannte sie sich. Schließlich hörte Alex auf, sich zu wehren. Heftig keuchend fragte er: »Warum? Warum?«
Lily ließ sich auf dem Bett nieder und blickte ihn an. Ihr Lächeln war eine Spur weniger selbstbewusst als vorher.
Trotz ihres Triumphes gefiel es ihr nicht, ihn gebunden und hilflos zu sehen. Es kam ihr so unnatürlich vor. Und die Stricke hatten auch schon seine Handgelenke aufgeschürft – sie konnte die roten Stellen auf seiner Haut sehen.
»Ich habe gewonnen, Mylord«, sagte sie ruhig. »Ihr könnt es auch mit Sportsgeist hinnehmen. Meine Taktik war vielleicht nicht ganz den Regeln entsprechend … aber der Zweck heiligt die Mittel, wie man so sagt.« Sie rieb sich den schmerzenden Nacken und gähnte. »Während wir uns hier unterhalten, ist Zachary in Raiford Park. Er wird heute Nacht mit Penelope nach Gretna Green fliehen,
Weitere Kostenlose Bücher