Jagd in der Tiefsee (Cryptos)
auf dem Deckel. In dieser Truhe steckt alles, was meine Mutter ausgemacht hat, dachte sie. Rose …
Dann nahm sie ein neues Moleskine-Heft aus der Schreibtischschublade, entfernte die Schutzfolie, schlug die erste Seite auf, zückte ihren Füller und begann zu schreiben:
Ich habe gar kein richtiges Geburtstagsgefühl. Ich dachte ja, ich wäre längst dreizehn geworden – nämlich an dem Tag vor ein paar Monaten, an dem auch Marty dreizehn geworden ist. Na egal, ich würdige diesen neuen Geburtstag jetzt einfach, indem ich ein neues Moleskine-Heft beginne – mein drittes seit unserer Rückkehr nach Cryptos.
Weiterhin keine Nachrichten von unseren Martys Eltern. Marty selbst redet nicht viel über sie, nur ab und zu fragt er mal, ob ich glaube, dass es ihnen gut geht. Aber er denkt viel an sie, das weiß ich. Ich habe gerade seine Sachen ausgepackt und in seinem Skizzenblock gesehen, dass er die beiden regelmäßig zeichnet. Bei dem Gedanken, dass er ganz alleine in seinem Zimmer sitzt und Sylvia und Timothy malt, um sie nicht zu vergessen, könnte ich auf der Stelle losheulen. Die Zeichnungen sind wunderbar detailliert. Sie wirken fast wie Fotos, so als würde Marty seine Eltern auf dem Papier zum Leben erwecken wollen. Wenn Wolfe sie nicht bald findet …
Aber er wird sie finden!
Wolfe hat mir gestern gesagt, dass er gerne selbst in Brasilien wäre, um nach ihnen zu suchen, aber ohne die kleinste Spur hat es wenig Sinn, dass er sich persönlich durch das Amazonas-Becken gräbt. Er hat ein Dutzend Leute dort unten, die die Gegend um die Absturzstelle systematisch durchkämmen. Denen zahlt er ein Vermögen. Das ist übrigens auch der Grund, warum diese Expedition hier so wichtig ist: Wolfe braucht Geld, denn der Großteil des eWolfe-Kapitals ist in der Forschungs- und Entwicklungsarbeit gebunden. Wolfe und Ted Bronson sind so gut wie nie flüssig. Das Geld für die Expedition mussten sie sich bereits leihen. Wenn Wolfe nicht mit einem lebenden Riesenkalmar zurückkommt, kann er danach Konkurs anmelden. Dann werden sie die Insel verlieren und überhaupt alles, was sie besitzen. Falls ihnen aber tatsächlich ein Kalmar ins Netz geht, erhalten sie die Hälfte aller Einnahmen, die das Tier der NZA in Zukunft einbringen wird. Und zwar, solange es lebt.
Phil und Bertha Bishop haben unser Gepäck in einem der Humvees zur Mole transportiert. Dort hatten wir natürlich Stress mit Alf Ikes’ Sicherheitsleuten. Die wollten doch tatsächlich alles haarklein kontrollieren! Normalerweise hätte ich nicht mal etwas dagegen gehabt, aber ich wollte nicht, dass sie das Gepäckstück öffnen, das ich selbst noch nie geöffnet habe: die Truhe meiner Mutter aus dem Kongo. Wir mussten erst Wolfe anrufen, damit uns die Wachleute in Ruhe ließen. Er kam extra zur Mole runtergefahren, hat angeordnet, dass die Truhe nicht durchsucht würde, und hat mir dann geholfen sie in meine Kabine zu hieven.
Marty hat die Truhe schon einmal geöffnet: dort im Kongo, als Butch McCall mich gekidnappt hatte. Marty hoffte darin einen Hinweis auf den Ort zu finden, an dem Butch mich festhielt. Stattdessen hat er meine Vergangenheit gefunden. Und hat festgestellt, dass ich seine Cousine und nicht seine Zwillingsschwester bin, dass Noah Blackwood mein Großvater und Travis Wolfe mein richtiger Vater ist. Und er hat erfahren, dass meine leibliche Mutter Rose hieß und das einzige Kind von Noah Blackwood war. Ich hatte erst überlegt die Truhe auf Cryptos zurückzulassen, aber dann wurde mir klar, dass ich das nicht gekonnt hätte. Ebenso wenig, wie Wolfe die Saurier-Eier hätte zurücklassen können. Man lässt doch seine Vergangenheit nicht einfach ungeschützt irgendwo stehen.
Marty hat mir übrigens schon verraten, was sich in der Truhe befindet: Zeitungsausschnitte, Forschungsaufzeichnungen, Fotos meiner Mutter in meinem Alter und Babyfotos von mir im Kongo – aufgenommen, bevor meine Mutter von einem Mokele-Mbembe getötet wurde, als ich zwei war. Und natürlich Moleskine-Hefte, genau die gleichen, die ich auch immer benutze. »Stapelweise Moleskines«, sagt Marty.
Mein Blick wandert über die Truhe. Hat meine Mutter die Rose auf den Deckel gemalt? Werde ich die Truhe während unserer Reise öffnen? Ich weiß es noch nicht, aber ich bin froh, dass sie an Bord ist. Meine Mutter liegt im Kongo begraben, in der Nähe des Lac Télé, unter einem Steinhaufen auf einer Lichtung. Aber hier, in einer Ecke meiner kleinen Kabine, ist ihr Leben
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