Jagdopfer
trug einen cremefarbenen Kaschmirpullover und eine schwarze Steghose, hatte diesmal kurze, dunkle Haare und sah - wie üblich - jünger aus, als sie war. Und attraktiv - wie immer. Als sie hochschaute, war Joe für sie zweifellos ein offenes Buch, denn er war zu müde, ein herzliches Willkommen zu heucheln. Im Trubel der letzten drei Tage hatte er ihren Besuch ganz vergessen.
»Zu Hause komm ich nie zum Lesen«, sagte sie zur Begrüßung. »Da hab ich meine Illustrierten mitgebracht. Es ist herrlich, Zeit dafür zu haben.«
»Klasse«, sagte Joe, weil ihm nichts anderes einfiel. Marybeth hatte ihm erzählt, dass Missy inzwischen in Phoenix lebte. Dort traf sie sich mit einem millionenschweren, einflussreichen Kabelfernsehmogul, der zur politischen Hautevolee von Arizona gehörte (Missy sandte ihrer Tochter pflichtbewusst sämtliche Klatschartikel, in denen ihr Name erwähnt wurde). Zwischen ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen hatte sie selbstverständlich nur wenig Zeit für all die alten Ausgaben von »Glamour«, »Gourmet«, »Southern Living«, »Cosmopolitan«, »Vanity Fair« und verschiedene Reisemagazine, die jetzt auf dem Boden aufgeschichtet waren.
Marybeth kam vom Flur herein. Sie hatte ihr makelloses Gastgeberinnengesicht aufgesetzt. Das mit dem breiten Lächeln.
»Die Mädchen wollten aufbleiben, aber ich hab sie
schließlich doch ins Bett gebracht. Sie sind gerade wach und wollen einen Gutenachtkuss.«
»Aber gerne«, sagte Joe.
Er drückte Marybeth im Vorbeigehen kurz den Handrücken und öffnete die Tür zum Kinderschlafzimmer. Das Licht brannte - beide lagen lesend im Etagenbett. Er küsste oben Sheridan und unten Lucy.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte Sheridan.
»Nur ein kleines Missgeschick.« Joe befühlte unwillkürlich den dicken Verband unter seinem Auge.
»Ich hab was anderes gehört.« Sheridan stützte sich auf ihr Kissen. »In der Schule haben sie gesagt, du hast einen Schuss abbekommen.«
»Aber nur zufällig.«
»Erzählst du uns morgen davon?«, fragte Sheridan.
Joe zögerte einen Moment. »Schlaft jetzt, Mädchen.« Lucy verdrehte die Augen und zog sich die Decke über den Kopf.
»Ich hab durchs Fenster geguckt«, sagte Sheridan. »Ich hab nichts gesehen. Keine neuen Monster.«
»Und so wird’s bleiben«, versicherte Joe. »Das ist jetzt vorbei.«
Lucy stellte sich schlafend. So wollte sie ihren Vater dafür bestrafen, dass er weg gewesen war. Er küsste sie und sagte Gute Nacht, aber sie blieb eisern und erwiderte nichts - bis auf die Spur eines Lächelns.
Joe schenkte sich in der Küche einen Bourbon mit Wasser ein. Zwar hatte der Arzt ihm Schmerztabletten verschrieben, aber Joe hatte sie nicht angerührt. Er sparte sie lieber für morgen.
»Hier steht: Fett ist nicht alles«, sagte Missy Vankueren nebenan. Vermutlich sprach sie mit Marybeth. »Man muss auch auf die Kalorien achten. Nur weil etwas wenig Fett hat, darf man es trotzdem nicht wüst in sich reinstopfen.«
Joe nahm einen großen Schluck und füllte das Glas mit Jim Beam auf. Er war kein großer Trinker mehr. Während des Studiums hatte er dagegen ganz gern einen gehoben. Und in der Ausbildung bei Vern. Aber wenn seine Schwiegermutter in der Nähe war, stieg Joes Alkoholkonsum sofort an.
Er kam ins Wohnzimmer und setzte sich. Marybeth hatte gerade nochmal nach Lucy gesehen. Sie sah Joe stirnrunzelnd an und wandte sich dann strahlend ihrer Mutter zu. Ob sie ihr etwas zu trinken bringen könne? Joe begriff, dass er sich gerade einen Verweis gefangen hatte, weil er Missy nicht selbst danach gefragt hatte.
»Habt ihr vielleicht irgendeinen Rotwein? Das wär nett.«
»Joe, machst du wohl eine Flasche auf?«, fragte Marybeth.
»Wo ist sie denn?«
»In der Speisekammer. Und ich hätt auch gern ein Glas.«
Der Wein stand auf einem Regalbrett. Gleich sechs Flaschen zur Auswahl. Die mussten in den letzten Tagen wegen Missy gekauft worden sein. Normalerweise standen hier nur Cornflakesschachteln.
»Marybeth ist eine wunderbare, starke Frau mit festen Grundsätzen«, brummelte Joe in sich hinein, während er nach dem Korkenzieher suchte. »Aber nicht, wenn ihre Mutter da ist.« Kaum kam Missy zu Besuch eingeschwebt,
verwandelte sich Marybeth von Joes Frau und Partnerin in Missys Tochter. Die mit den brachliegenden Fähigkeiten (so Missy). Die Lieblingstochter (so wieder Missy). Marybeths älterer Bruder Rob war ein Einzelgänger, der keinen Kontakt zur Familie hielt, und ihre jüngere
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