Jagdopfer
Schwester Ellen hatte sich ganz der Indie-Band »Phish« verschrieben und folgte ihr als Groupie auf einer Tournee, die einfach kein Ende nehmen wollte. Marybeth war die, die zu früh und zu schlecht geheiratet hatte (so Missy, betrunken und schluchzend; mag sein, dass sie diese Bemerkung inzwischen vergessen hatte - Joe nicht). Statt die gut gekleidete, wohlhabende Firmenanwältin zu sein, die sie hätte sein sollen, war Marybeth die Frau eines Jagdaufsehers irgendwo in Wyoming, der im Jahr nicht mal 30 000 Dollar verdiente. Aber Missy dachte bestimmt, es sei vielleicht noch nicht zu spät. Das jedenfalls interpretierte Joe in vieles hinein, was Missy sagte und tat.
Über all diese Dinge hatten Joe und seine Frau schon diskutiert, und Marybeth war der Meinung, ihr Mann urteile zu hart über ihre Mutter. Stimmt, sie nehme manchmal die Rolle der Tochter an, wenn Missy da sei. Aber sie sei doch auch Missys Tochter. Ihre Mutter wolle eben nur das Beste für sie. So seien Mütter nun mal. Und Missy sei auf Joe in gewisser Hinsicht stolz. Er scheine ihr treu und ein guter Vater zu sein. Marybeth hätte es viel schlimmer treffen können, so Missy. Laut Marybeth.
Joe war schlechter Laune, als Marybeth in die Küche kam. Er schenkte zwei Gläser ein und gab sie ihr.
»Ach, komm«, meinte Marybeth. »Sie versucht doch, nett zu sein.«
»Ich dachte, ich verhielte mich absolut korrekt«, brummte Joe.
»Du bist nicht gerade sehr entgegenkommend«, sagte Marybeth mit blitzenden Augen. Joe trat nah an Marybeth heran, damit man das, was er zu sagen hatte, nebenan nicht hören konnte. Er habe gerade drei der seltsamsten Tage seines Lebens hinter sich. Erst Otes Leiche, dann die Schießerei im Jagdlager und die Entdeckung der angefressenen Toten, schließlich der Hagel von Fragen und der Aufenthalt im Krankenhaus. Ihm drehe sich der Kopf - und er sei vollkommen übermüdet. Das Letzte, was er jetzt, wo er endlich nach Hause gekommen sei, brauchen könne, sei Missy Vankueren. Diese Missy Vankueren obendrein, die es ihrer Tochter einmal schwer übelgenommen habe, dass sie die Frechheit besessen hatte, sie zur Großmutter zu machen.
Jetzt war Marybeth wirklich ärgerlich.
»Was in den letzten Tagen passiert ist, ist nicht Missys Schuld«, sagte sie. »Sie besucht einfach nur ihre Enkelinnen. Sie hat nichts damit zu tun, dass ein Mann hinter unserem Haus gestorben ist. Sie hat ein Recht, mich und ihre Enkelinnen zu besuchen, die ganz begeistert von ihr sind.«
»Aber warum muss das ausgerechnet jetzt sein?«, fragte Joe schwach.
»Thomas Joseph Pickett«, entgegnete Marybeth scharf. »Geh ins Bett. Du bist müde und unangenehm, und wir können das morgen besprechen.«
Joe wollte etwas sagen, verkniff es sich aber. Marybeth hatte diesen Klang in der Stimme, den sie auch bekam, wenn sie auf die Kinder sauer war und sie beim Namen nannte. Zum Glück hatte sie Recht, denn Joe hatte keinerlei Kraft für einen Streit.
Er ging ins Wohnzimmer, und Missy sah von ihrer
Zeitschrift auf. Ihre Augenbrauen waren erwartungsvoll hochgezogen. Das ärgerte Joe. Offensichtlich war ihr klar, dass es in der Küche eine Diskussion gegeben hatte.
»Ich geh ins Bett«, erklärte er. Er wusste, dass er einfältig klang.
»Das solltest du tun«, säuselte Missy. »Wahrscheinlich bist du nach den letzten Tagen total erschlagen.«
»Stimmt.«
»Gute Nacht, Joe. Träum schön.« Missy schaute wieder in ihre Zeitschrift. Das sollte ihm zeigen, dass er entlassen war.
Als Marybeth später ins Schlafzimmer kam, schreckte Joe hoch. Er hatte geträumt, wieder in den Bergen zu sein, und noch einmal erlebt, was im Jagdlager geschehen war. Im Schock nach der Schießerei war die Zeit ins Schwimmen geraten, und Joe war mitgetrieben wie ein Floß auf dem Strom. Die Leichen der Ausrüster befanden sich noch immer da, wo sie gefunden worden waren. Clyde Lidgard war noch immer halb unter dem mittleren Zelt begraben. Er stöhnte. Sie deckten ihn zu. Rosa Bläschen platzten ihm beim Atmen aus einem Loch in der Brust. Hilfssheriff McLanahan musste sich in den Büschen heftig übergeben, nachdem die lange Anspannung plötzlich nachgelassen hatte. Der Gestank aus dem rechten Zelt wehte zu Joe und Wacey rüber, als der Wind drehte.
Im Traum warteten die drei noch immer auf den Hubschrauber. Sie hatten Hunger.
»Wie spät ist es?«, fragte Joe.
Marybeth schminkte sich nebenan im Bad ab. Sie schrubbte sich dabei richtig, so ärgerlich war sie noch.
»Mitternacht.
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