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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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früh, Marie.
    – Ich weiß jetzt auch, wie sie es mit dem Lesen hält. Wenn es ein Westernheft ist, oder Comics, sie ist davon nicht wegzukriegen. Wie jemand, der nicht aufwachen will. Nicht mit einem Lehrbuch.
    – Bring ihr das bei.
    – Du, sie steht jetzt am Broadway oder an der 118. Straße und sieht Leute an, oder Schaufenster. Oder Autos.
    – Sie wartet auf den Bruder, der verschwunden ist. Oder sie kann nicht gegen die Gewohnheit.
    – Soll ich ihr dahin nachlaufen mit Mathematik V? Soll ich sie mit Gewalt hier halten?
     
    Viet Cong, die sich in der Zitadelle von Hue eingegraben haben, wurden zwei Tage lang von Flugzeugen, Artillerie und Schiffsgeschützen schwer bombardiert und beschossen. Dennoch sind die amerikanischen Marineinfanteristen an einem ganzen Tag nur zweihundert Yards vorangekommen. Die amerikanischen Verluste seit amtlichem Beginn des Krieges standen gestern bei 17 696 Toten, 109 922 Verwundeten und ungefähr 1000 Vermißten oder Gefangenen. Die Militärbehörden geben die Zahl der Untersuchungen an, die sie gegen die kämpfende Truppe wegen Genuß von Marijuana geführt haben, nicht die Zahl der zutreffenden Befunde.
     
    – Du magst Francine nicht, Marie. Vielleicht ist dein Zimmer dir zu klein für euch beide.
    – Das ist falsch, und nicht die Frage.
    – Du findest sie häßlich.
    – Nein!
    – Du hast es gesagt.
    – Ich mag es gesagt haben, als ich sie nicht kannte. Jetzt weiß ich, wer sie ist. Darum geht es nicht.
    – Worum geht es?
    – Sie kann nicht so leben wie wir.
    – Sie holt ganz unerstaunlich Atem.
    – Ja, Gesine. Und ihr fällt nichts auf dabei, daß sie nicht mehr fragt, bevor sie an alle Schubladen geht. Und wenn meine Fotografien sie eben interessieren mögen; sie legt sie nicht zurück, wie sie waren. Hast du gern, daß sie sich das Tonband vorspielt, das gerade aufliegt?
    – Sie versteht es nicht, Marie. Es ist doch Deutsch.
    – Und wenn sie es löscht?
    – Dazu muß sie mit Absicht einen Schalter falsch stellen, und dann noch einen.
    – Das geht auch versehentlich.
    – Ach was.
    – Du, ich zeig es dir.
    – Dann nehm ich eben den Akkumulator heraus.
    – Und was machst du, wenn sie das verschlossene Fach des Bücherschranks aufmacht, nur weil es verschlossen ist, und deine mecklenburgischen Sachen durcheinanderbringt? Oder verkauft?
    – Sie stiehlt nicht, Marie.
    – Das sage ich nicht. Sag doch: sie nimmt.
    – Weil sie früher nichts hatte, und jetzt immer noch nicht viel.
    – Sie hat manchmal mehr Geld, als du ihr gibst. Zähl unser Haushaltgeld.
    – Sie weiß auch schon, wo das liegt?
    – Ich hab es ihr gezeigt.
    – Einspruch abgewiesen, Marie.
    – Nein! Damit ich sie bitten konnte, die Schublade eben nicht aufzuschließen.
    – Und wenn sie es nun doch tut, ist der Diebstahl passiert, und du hast ihr dazu verholfen. Ist es das? Soll sie aus dem Haus, so, oder anders?
     
    Die Armee hat in geheimen Lagern Vorräte zur Bekämpfung der künftigen Sommeraufstände angelegt, auch einen Generalstabsplan angefertigt, komplett mit Plänen von Kanalisation, elektrischen und wasserführenden Leitungen. Weiterhin sind Luftbrücken mit kurzer Lieferzeit an jeden beliebigen Stützpunkt der Nationalgarde vorgesehen. Es werden taktische Teams ausgebildet, bestehend aus je einem Schützen mit Zielfernrohr, einem Aufklärer und zwei Offizieren, die mit Schrotflinten und Handfeuerwaffen Feuerdeckung geben können. Für diesen Sommer.
     
    – Ich schlage vor, du entschuldigst dich erst einmal, Mrs. Cresspahl.
    – Wenn du es verlangst.
    – Und nun sag es mir. Wenn Francine bei uns lernt, daß einer des anderen Sachen in Ruhe läßt. Daß nichts Gefährliches verschwiegen wird. Daß Geld erst besprochen wird, und nicht heimlich genommen. Was fängt sie damit an, wenn sie zu ihren Leuten zurückgeht?
    – Soll sie zurückgehen?
    – Zu einer Mutter geht man zurück, Gesine. Was fängt sie da an mit unseren Gewohnheiten?
    – Müssen wir bis dahin denken?
    – So hast du es mir beigebracht. Zwei Schritte voraus.
    – Warum willst du verantwortlich sein für mehr als ein Nachtlager?
    – Du verstehst mich nicht, Gesine.
    – Eifersucht versteh ich nicht. Und de Rosny würde sagen: Eifersucht, young lady, ist etwas Furchtbares für eine Bank. Bankers have human feelings too. Believe me.
    – Deswegen hast du die Zeitung vor dir behalten? Weil ich eifersüchtig bin?
    – Hei, Francine.
    – Hei Francine!
    – Es freut mich, Sie zu sehen, Mrs. Cresspahl.

17.

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