Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
man den gefüllten Leib an den Öffnungen oben und unten zu, zerlasse zwei Unzen Butter …
– 1946 hast du keine Ente gegessen, Gesine.
– 1946 haben wir gehungert, streng nach dem Rezept.
– Gesine, wie warst du als Kind in der Neuen Schule?
– Sie war lange nicht fertig. Noch im Frühjahr waren wir die Klasse aus dem alten Lyzeum. Zwar Eike Swantenius war tot, die hatte ein Brite erschossen, im Vorüberfahren. Sogar Wegerechts Tochter kam gelegentlich zum Unterricht. Fahrschüler aus Jerichow waren nach wie vor Wollenberg und Cresspahl, und wiederum saßen sie nicht zusammen auf einer Bank. Es waren Flüchtlingskinder zu uns eingeteilt, aber deren frühere Schulen mußten zu unserem Lehrplan passen. Wir waren nun einmal in Gang gesetzt mit Latein, damit sollten wir weiter. Nach dem Gesetz hätte ich nicht vor Abschluß der achten Klasse aus Jerichow wegdürfen. Neu waren die Roggenbrötchen in der Pause nach der zweiten Stunde.
– Konntest du dich nun rächen an Julie Westphal? Die Ohrfeigen für vergessene Hefte, sie waren doch faschistische geworden.
– Julie Westphal hatte sich verzogen vor der Rache der Schülerin Cresspahl. Sie trat gar nicht erst an unter der sowjetischen Besatzung, sie war von Juli an die zweite Vorsitzende des Kulturbunds in Gneez. Da gab sie musikalische Abende mit Sprüchen aus dem siebzehnten Jahrhundert, sie soll von innen heraus zerflossen sein am Flügel, den Hals hoch wie ein schluckendes Huhn, und Karten für Schwerarbeiter bezog sie als Künstlerin.
– Wie hieß solches Umsteigen in Gneez?
– Wie du sagst: Vorsicht an der Bahnsteigkante. Als Lehrerinnen hatten wir alte Damen, Charlotte Pagels mit Schwester und Frau Dr. phil. Beese. Die Beese war 1938 vor der Zeit in Pension geschickt worden, Lottie und Fifi Pagels zwar nach Beamtenrecht, alle hielten sich für Opfer nazistischer Willkür und zeigten uns ihre Kränkung vor, als sei sie unzureichend geflickt. Sie hielten es für eine Gnade, daß sie sich abgaben mit uns, und hatten nichts dazugelernt für den Umgang mit Zwölfjährigen. Was sie wollten war ein Salon voll artiger Kinder, ähnlich Louise Papenbrock, die das Zierporzellan nur zum Ansehen aus der Vitrine holte, und nicht zum Anfassen. Fifi konnte mitten im Rechnen die Hände hochwerfen und rufen: Ihr schlechten, schlechten Kinder! Sie war unter Lotties Knute mürbe geworden, nun hielt sie ihr Portrait im Regenschmutz der Fensterscheibe nicht aus. Beese hielt sich an die Mittel der Verachtung, kehrte still den Kopf weg, wenn dir die Schrift unter die Zeile gerutscht war, knautschte die Lippen zusammen und schritt gemessen zurück zu dem sichersten Platz, dem Pult, der Kommandobrücke.
– Und Stalin hinter ihr an der Wand.
– Nicht Stalin, nicht Marx. Wir bekamen sachlichen Unterricht in den Fächern, deren Bücher wir nicht hatten abgeben müssen. Die Sowjetunion konnte nicht vorkommen, Geographie war eingezogen. Dreisatz, Ablativ, Friedrich Schiller wurden durchgenommen. Biologie nicht. Die neuen Schulbücher waren noch nicht erfunden. Lottie, auch Charlie genannt, lernte jeweils Russischstunden im voraus von einem Herrn Krijgerstam, privat, nicht etwa in seinem Kulturbundkurs.
– Was konnte man mit einer Eins in Russisch verdienen?
– Nichts bei diesen Damen. Wer gut aufsagen konnte, auf die strahlende Art: wie herrlich leuchtet / mir die Natur; dem leuchtete Lotties Natur. Brigitte Wegerecht wurde am 3. Januar 1946 weggebracht mit Fleckfieber, am 6. März kam sie zurück mit einer Mütze auf dem Kopf. (Sie wurde mit ihrer Halbglatze geneckt, und die Schülerin Cresspahl verabredete sich mit ihr als Nachbarin für das neue Schuljahr.) Brigitte bekam ins Zeugnis eine Vier für das Russisch, das sie versäumt hatte; das war in den Augen der Pagels verzeihlich. Die Vier für wirre Handarbeit jedoch galt als nie und nimmer verzeihlich. Wir sollten weiterhin für den bürgerlichen Haushalt erzogen werden.
– Nicht antifaschistisch?
– Nicht prosowjetisch. Zu den Beschäftigungen gehörten Versuche in der Namensforschung. Es war die schlimmste Gelegenheit für den Spitznamen. Die Schülerin Cresspahl wollte nicht angenagelt werden als Kresse am Pfahl, sie mochte aber auch nicht einen Namen als Christ haben, vielleicht von Chrest im Wendischen. Als sie an der Reihe war, erklärte sie ihren Namen als zusammengesetzt aus kross und Pall.
– Pawl.
– Ja. Die Sperre im Zahnrad, die das Zurückschlagen der Winde verhindert, und zwar eine grobe,
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