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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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stehen, ohne sich nach ihren Begleitern umzublicken. Einer öffnet die Wagenklappe, an ihrer Innenseite ist ein kleines Fußbrett, sie will hinaufsteigen.
    Da fährt der Wagen an, Elisa Kirschbaum tritt ins Leere und fällt auf den Damm. Der Wagen wendet bloß, um auf der anderen Straßenseite zu halten, der Fahrer steckt schon vorher den Kopf aus dem Fenster. Jakobs Standpunkt ist so weit entfernt, daß er die Gesichter der Beteiligten nicht erkennen kann, Näherwohnende erzählen später, die Deutschen hätten gegrinst, als handelte es sich um einen oft erprobten Spaß. Elisa Kirschbaum erhebt sich sofort, mit einer Behendigkeit, die verwundert, sie steht wieder bereit, bevor der Wagen mit dem Wenden fertig ist. Er muß zwei Anläufe nehmen. Dann steigt sie hinauf, es ist ziemlich hoch für sie, trotz aller Bemühungen erhält sie einen Stoß. Die beiden klettern auch nach hinten, die Klappe wird hochgezogen, Elisa Kirschbaum ist hinter der dunkelgrünen Plane endgültig verschwunden. Der Wagen fährt davon, nach einer Sicherheitsfrist öffnen sich viele Haustüren.
    Und die schmalen Bürgersteige füllen sich allmählich wieder mit schweigenden und debattierenden Leuten, von denen die meisten auf dem Heimweg von der Arbeit sind, wie man weiß, und fremd in dieser Straße.

    Die Rote Armee steht indessen, laut Radio, unmittelbar vor der Kreisstadt Pry. Pry ist nicht mit Bezanika zu vergleichen, Pry kann sich jeder vorstellen, bei Pry muß man nicht erst fragen, wo liegt das überhaupt. Pry ist exakt hundertsechsundvierzig Kilometer von uns entfernt, die meisten Ortsansässigen kennen das Städtchen von gelegentlichen Besuchen. Wenige haben sogar dort gewohnt und sind nach Kriegsausbruch hierher geschafft worden, denn Pry besitzt auf Grund seiner glücklichen Bevölkerungsstruktur kein eigenes Ghetto.
    Die Position der Russen wird zum Gegenstand eines Wortwechsels, Kowalski hat mit einem seiner drei Zimmergenossen, deren Namen mir unbekannt sind, einen Streit. Nun ist es, wie der verträgliche Jakob und ich mit ihm zur Genüge wissen, die leichteste Sache von der Welt, anderer Meinung zu sein als Kowalski, aber in diesem besonderen Fall ist man geneigt, ihm recht zu geben. Es geht um keine Kleinigkeit, es geht darum, daß dieser eine, nennen wir ihn der Einfachheit halber Abraham, daß also Abraham behauptet, die Russen wären schon durch Pry hindurch, auf dem Weg nach Mieloworno. In seiner Fabrik, nehmen wir an der Ziegelbrennerei, hat es einer erzählt, Kowalski dagegen schwört Stein und Bein, sie sind noch nicht einmal in Pry. Aber Abraham sieht absolut keinen Grund, Kowalski mehr zu glauben als seinem Kollegen.
    »Wer arbeitet auf dem Bahnhof?« fragt Kowalski erbost.
    »Du oder ich? Wer hört alles aus erster Hand? Du oder ich?«
    Für Abraham ist das kein gültiger Beweis, vor allem wohl nicht, weil seine Version viel angenehmer klingt als die Kowalskis, jeder Mensch kann sich einmal irren, sagt er. Auch den logischen Einwand, daß alles, was dieser mysteriöse Kollege in der Ziegelbrennerei angeblich wissen will, auf irgendeine Art von Jakob stammen muß, läßt er nicht gelten.
    »Oder gibt es vielleicht ein zweites Radio?«
    »Was weiß ich«, sagt Abraham.
    Kowalski könnte es gleich sein, soll Abraham denken, was er will, soll er auf plumpe Gerüchte hereinfallen wie ein gläubiges Kind, aber irgendwie fühlt er sich für die Wahrheit mitverantwortlich. Denn das Radio ist gewissermaßen auch sein Radio, uralte Freundschaft mit Jakob, die bis auf den Tag nicht abgerissen ist, um ein Haar hätte er es sogar in die eigene Wohnung bekommen, bei der Stromsperre damals. Also erklärt er mit geduldiger Zunge den langen Weg, den jede Nachricht von Jakobs Mund bis zu der Fabrik zurücklegen muß, über wie viele Leute, welchen Gefahren sie auf diesem Weg ausgesetzt ist, Gefahren der Verstümmelung und der Beschönigung. Wie jeder eigenes hinzutut, aus dem Guten Besseres macht, und die Nachricht kommt schließlich, wie sich herausstellt, in einem Aufzug an, daß sie ihr eigener Vater nicht wiedererkennt.
    »Jedenfalls sind die Russen unterwegs nach Mieloworno«, sagt Abraham beharrlich. »Vielleicht hast du dich verhört, oder er hat sich verhört. Frage ihn morgen lieber noch mal.«
    Kowalski fragt Jakob nicht morgen, die Vorwände für ein gemächliches Plauderstündchen mit Jakob sind selten genug, Kowalski geht sofort zu Jakob.
    Er findet ihn in denkbar schlechter Verfassung, matt, gleichgültig, wortkarg, vor

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