Jakob der Luegner
einer halben Stunde haben sie Elisa Kirschbaum abgeholt.
»Störe ich?« fragt Kowalski und zaubert ein Lächeln, das ihm gleich nach dem ersten forschenden Blick in Jakobs Gesicht verfehlt vorkommt.
»Du bist es«, sagt Jakob. Er schließt hinter Kowalski die Tür und legt sich angezogen auf das Bett, wo er allem Anschein nach schon gelegen hat, bevor es klopfte. Er verschränkt die Hände unter dem Kopf und starrt zur Decke, Kowalski wundert sich, was mit ihm plötzlich los ist, vorhin, als sie vom Bahnhof gekommen sind, hat er noch einen ganz vergnügten Eindruck gemacht, wenn man in den letzten Jahren überhaupt von vergnügt sprechen darf.
»Ist was passiert?« fragt Kowalski.
Passiert oder nicht passiert, Jakob spürt eine bislang unbekannte Schwäche, erschreckend plötzlich, als er vorhin vom Dachboden herunterkam, wohin er Lina begleitet hatte, mußte er sich am Geländer festhalten. Er hat versucht, sich den neuen Zustand mit dem endlosen Hunger zu erklären, aber damit war nur das Zittern der Knie ergründet, kaum die Herkunft der anderen Schwäche, der ebenso quälenden, der Mutlosigkeit. Ihr forscht er nun nach, zur Decke starrend, und versucht dabei, sie sich auszureden, sie kleiner zu machen als sie tatsächlich ist, so dick und gewichtig. Der Vorfall mit Elisa Kirschbaum war sicher nur ein kleiner Baustein, er hat Jakob ohne Frage mitgenommen, aber es wäre übertrieben zu sagen, er ist das Erlebnis gewesen, das Jakob von einer Minute auf die andere den Mut nahm. Schwerer wog schon der Besuch Rosas, sich anhören zu müssen, wie Lina ihn mit Lügen verteidigt hat, mit seinen eigenen Waffen, wenn man auch diesem Besuch nicht die Hauptschuld an Jakobs schwindenden Kräften geben sollte. Es kommt von überallher ein bißchen zusammen, am meisten wohl, wenn man sich ganz einfach die Lage um einen herum ansieht. Immer öfter nimmt dich einer zur Seite und sagt dir, Jakob, Jakob, ich glaube an kein gutes Ende mehr, und wenn du den einen mit ganz frisch eingetroffenen Meldungen notdürftig getröstet hast, stehen schon sechs andere da und wollen dir dasselbe sagen. Die Russen bedrängen, laut Radio, Pry, Gott allein weiß, wen sie in Wahrheit bedrängen, oder wer sie bedrängt. Laut Radio müßte man bald das erste Geschützfeuer in der Ferne sehen, man sieht Tag für Tag das gleiche Bild, diese widerliche Trostlosigkeit. Allmählich mußt du Rückzugsgefechte ins Auge fassen, denn du hast dich beim Vormarsch zu einem Tempo hinreißen lassen, das der Wirklichkeit leider nicht standhält.
Und Kowalski steht unnütz herum und wartet vergeblich auf einen einladenden Blick.
»Soll ich vielleicht wieder gehen?« fragt er nach angemessener Frist und setzt sich.
Jakob erinnert sich an seinen Gast, er läßt die Decke in Ruhe und sagt: »Entschuldige, ich fühle mich nicht besonders.«
»Ist was gewesen?«
»Ja und nein«, sagt Jakob. »Vorhin haben sie Kirschbaums Schwester geholt. Aber abgesehen davon, man wird langsam alt.«
»Kirschbaums Schwester? Jetzt noch?«
»Stell dir vor.«
Jakob steht auf, in seinen Ohren lärmen verdächtige Signale, kombiniert mit Schwindel und Übelkeit, fehlt bloß noch, daß er ernsthaft krank wird. Er hört aus ziemlicher Ferne, wie Kowalski sagt: »Was ist mit dir?«
Er setzt sich schnell an den Tisch, zum Glück wird es besser, ihm kommt Lina in den Sinn, und was aus ihr werden soll, und daß man lieber gesund bleibt. Und ein kleines Schildchen, als er Kowalski endlich ansieht, kommt ihm in den Sinn, ein weißes Schildchen mit der grünen Aufschrift:
»Wegen Krankheit vorübergehend geschlossen«. Er hat es von Lajb Pachman mit übernommen, als er ihm die Diele abgekauft hat, es gehörte neben vielem anderen Zeug zum Inventar. Ein einziges Mal nur hat er es gebraucht, während all der zwanzig Jahre, die über Puffern, Eis und vergleichsweise kleinen Sorgen vergangen sind, hat das Schildchen nur ein einziges Mal in der Ladentür gehangen. Dabei war es nicht einmal eine richtige Krankheit, Jakob besaß eine Konstitution wie ein Pferd, er war, als er die verklemmte Jalousie reparieren wollte, von der Leiter gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen, da nutzt die beste Gesundheit nichts.
Lange vor Josefa Litwins Zeit war das, die hätte man gut zur Pflege brauchen können, gepflegt hat ihn eine verschrumpelte alte Hexe aus dem Hinterhaus. Gegen Bezahlung, versteht sich, weil man sonst keinen Menschen hatte. Aber was heißt gepflegt, sie hat den Tisch mit dem Essen so
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