Jakob der Luegner
überrascht von einem zum anderen, er gibt das Suchen auf und wundert sich, daß Frau Frankfurter nicht einmal den Blick vom Hemd hebt. Sie wissen es schon, und dabei hat er bis jetzt nicht gemerkt, daß sie es wissen, er wundert sich, daß alles im Zimmer noch aussieht wie beim letzten Besuch. Er wundert sich, wie schnell es geht, heute früh hat er es erst von Jakob gehört, jetzt ist es schon hier bei den Frankfurters, über wieviel Stationen, doch am seltsamsten ist, daß Rosa jetzt erst davon anfängt. Sie kann es nicht vergessen haben, und jetzt ist es ihr wieder eingefallen, unmöglich, irgendwas stimmt da nicht, vielleicht haben sie Grund, die Sache nicht zu glauben.
»Ihr wißt es schon?«
»Vorhin auf der Arbeit haben sie es erzählt«, sagt Rosa.
»Und ihr freut euch nicht?«
»Freuen?« sagt Frankfurter, tatsächlich rollt er das R.
»Freuen sollen wir uns? Worüber sollen wir uns denn freuen, Jungchen, he? Früher hätten sie sich darüber freuen können, die ganze Verwandtschaft zusammenrufen und saufen, aber heute gibt es ein paar Kleinigkeiten, die anders geworden sind. Ich halte die Sache für einen einzigen Jammer, mein Junge, fast schon ein Unglück für die Leute, und da fragst du, warum ich mich nicht freue?«
Mischa wird sofort klar, daß von etwas ganz anderem die Rede ist, die einzige Erklärung für die Stimmung, wenn nicht, dann hat Frankfurter den Verstand verloren, dann weiß er nicht mehr, was er redet.
»Es wird schwer sein, das Kind großzuziehen«, sagt Frau Frankfurter zwischen zwei Nadelstichen.
Der erste Anhaltspunkt, neues Erstaunen in Mischas Augen, von irgendeinem Kind wird gesprochen, so schnell geht es also doch nicht mit der Nachrichtenübermittlung.
Offenbar haben zwei Wahnsinnige ein Kind in diese Welt gesetzt, ohne von der Neuigkeit gehört zu haben, in normalen Ghettozeiten sicher ein Thema, über das man spricht.
Aber seit gestern sind die Zeiten nicht mehr normal, da weht ein anderer Wind, da können wir dir Dinge sagen, da vergißt du Kind und Mann und Weib und Essen und Trinken, seit gestern ist morgen auch noch ein Tag.
Jetzt wundert sich Rosa, erst wundert sie sich und dann lächelt sie über Mischas Gesicht.
»Du weißt es ja doch noch nicht«, sagt sie. »Aber so ist er.
Er kann nicht vertragen, wenn andere mehr wissen als er.
Immer spielt er den Neunmalklugen, und dabei hat er von nichts eine Ahnung. Im zweiten Bezirk ist ein Kind geboren worden, in der Witebsker. Zuerst waren es Zwillinge, aber eins ist gleich nach der Geburt gestorben. In der letzten Nacht.
Wenn alles vorbei ist, wollen sie den Jungen auf den Namen Abraham eintragen lassen.«
»Wenn alles vorbei ist«, sagt Frankfurter. Er legt die Pfeife auf den Tisch, steht auf, spaziert mit gesenktem Kopf durch das Zimmer, die Hände auf dem Rücken. Seine mißbilligenden Blicke treffen Mischa, der doch nicht etwa grinst. Sie nehmen alles so leicht, Rosa auch, sie mögen zu jung sein, um es zu begreifen, sie reden von künftigen Zeiten wie von einem Wochenende, das bestimmt kommen wird, man fährt mit der ganzen Familie und einem Korb voll Essen ins Grüne, egal ob es regnet oder nicht. »Wenn alles vorbei ist, lebt das Kind nicht mehr, und die Eltern leben nicht mehr. Wir alle werden nicht mehr leben, dann ist alles vorbei.«
Frankfurter ist angekommen, sein Spaziergang ist zu Ende, und er setzt sich wieder.
»Ich finde David schöner«, sagt Frau Frankfurter leise.
»Dovidl … Erinnert ihr euch, so hat der Sohn von Annette geheißen. Abraham hört sich so sehr alt an, überhaupt nicht wie ein Kind. Dabei ist doch nur bei Kindern der Name von Bedeutung. Später, wenn sie erst groß sind, ist er gar nicht mehr so wichtig.«
Rosa neigt mehr zu Jan oder Roman, sie meint, daß man endlich von den traditionellen Namen loskommen sollte, wenn man den Stern nicht mehr zu tragen braucht, dann auch andere Namen. Frankfurter schüttelt den Kopf über das Weibergeschwätz, und Mischa wünscht sich auf einmal, daß er jetzt erst gekommen wäre, gleich mit der Neuigkeit ins Haus, so wie sie ist. Denn wenn er nun davon anfängt, dann wird es ihnen ähnlich gehen wie ihm bei seinem Irrtum, warum sagt er es jetzt erst, vergessen haben kann er es nicht. Er sitzt schon und sitzt, sie reden sich immer tiefer in ihre trübe Laune, entweder er sagt es erst morgen und tut dann so, als wäre es die letzte Neuigkeit, oder er denkt sich eine Geschichte aus, die erklärt, warum erst jetzt und nicht gleich beim
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