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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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Gott verhüten möge, zu den Fäusten greifen. Man könnte ganz harmlos hineingehen, guten Tag Lina, guten Tag Rafael, nett von dir, daß du sie einmal besuchst, wie geht es deiner Mutter? Dann wird das Gespräch schon von selbst auf den Streitfall kommen, der wird von zwei Parteien vorgetragen werden, Ruhe, Kinder, immer hübsch einer nach dem anderen. Dann wird man zweifellos schlichtende Worte finden, die Unklares in neuem Licht erscheinen lassen, kein Grund weit und breit, Kinder, aufeinander so böse zu sein, die Wirklichkeit sieht so und so aus, und am Ende stehen Wohlgefallen und Verständnis. Er will sich also in das Kampfgetümmel stürzen, da hört er Rafaels friedfertige Stimme: »Wenn dir dein Onkel wieder mal ein Märchen erzählt, dann sag ihm, er soll sich was Besseres ausdenken als solchen Quatsch. Die Prinzessin hatte nämlich einen riesengroßen Furz im Kopf.«
    Es kommt nicht zum Eingreifen, die Tür geht auf, Jakobs altgewohntes Glück mit Türen, sie geht nach außen und beschert ihm ein Versteck. Rafael macht sich davon zu lohnenderem Zeitvertreib, ganz sicher will er Siegfried suchen und berichten. Man hört ihn die Treppe hinunterlaufen und pfeifen, er pfeift »Zitronen und Pomeranzen«, er pfeift auch, als Lina ihm den spärlichen Rest nachschreit, der noch zur Vollendung nötig ist: »Und sie hatte doch diese Krankheit! Und der Gärtnerjunge hat ihr die Watte beschafft! Und sie ist davon gesund geworden, und sie haben geheiratet!«
    Alles ist gesagt, wenn auch in verschlossene Ohren, ganz unten verstummt ein Liedchen, die Haustür fällt ins Schloß, ganz oben streckt sich eine enttäuschte lange Zunge aus, und die Bodentür wird zugeknallt. Jakob vor der Tür wie am Anfang, Zweifel tauchen auf, ob die zwei geschenkten Stunden mit Lina gut verbracht sind, jetzt noch. Er sagt mir, es wäre ja ganz lustig gewesen, die beiden Kinder, aber er hätte plötzlich keine Lust mehr gehabt hineinzugehen, er hätte sich plötzlich abgespannt gefühlt. Er wollte die zwei Stunden nun lieber doch für sich behalten. Und er fragt mich, ob er mich mit solchen Einzelheiten langweilt, ich soll es ihm nur sagen.
    Ich sage ihm: »Nein.«
    Jakob geht mit seinen zwei Stunden spazieren, es ruht sich nicht nur aus in engen Zimmern und bei ans Herz gewachsenen Kindern, der Hang zum Schlendern ist ihm noch geblieben, trotz Scheinwerfer und Revier. Schlendern in einem Städtchen, aus dem du dein Leben lang nie weiter weggekommen bist als eine Woche, die Sonne scheint dir freundlich auf den Weg, so freundlich wie auch die Erinnerungen sind, um derentwillen du doch bloß dein Haus verlassen hast und zu denen dir jede zweite Straße eine Brücke baut, man weiß es bereits. Zweimal um die Ecke, schon stehst du vor dem Haus, in dem sich oft genug entschieden hat, wie gut dein nächster Winter wird. Kein anderer hat drin gewohnt als Aaron Ehrlicher, der Kartoffelhändler.
    Von den Preisen, die er gemacht hat, hing viel für einen ab, der Pufferpreis und damit auch der Umsatz. Er hat nie mit sich handeln lassen, soviel und keinen Groschen weniger, wenn es Ihnen zu teuer ist, Herr Heym, können Sie sich gerne weiter umsehen, ob Sie die Kartoffeln woanders billiger bekommen.
    Und wenn Sie die Stelle gefunden haben, dann sind Sie doch so gut und geben mir Nachricht, ich möchte auch dort kaufen.
    Nicht einmal hat er mit sich handeln lassen, Jakob hat irgendwann zu ihm gesagt: »Herr Ehrlicher, Sie sind kein Kartoffelhändler, Sie sind ein Kartoffelverkäufer.« Natürlich nur im Spaß, doch schallend gelacht hat Ehrlicher nicht. Man ist sich auch nie klargeworden, ob er ein armer Schlucker war, kleiner Gewerbetreibender wie man selbst, oder ein Geschäftsmann von der größeren Kategorie. Seine Frau hat einen schönen braunen Pelz getragen, und die Kinder waren dick und rund und eingebildet, andererseits, sein Büro roch nach Schimmel, klein und schäbig, nur Tisch und Stuhl und blanke Wand, er hat es seufzend vorgewiesen und gefragt: »Wie soll ich dabei kleinere Preise machen?«

    Jetzt wohnen unbekannte Leute drin, du blätterst die Seite mit Aaron Ehrlicher um und gehst weiter, zwei geschenkte Stunden sind eine lange Zeit, gehst in das Libauer Gäßlein, genau bis vor die Nummer 38. Vor kein Haus gehst du so oft wie vor dieses, wenn du spazierst, vor keinem stehst du so lange, das hat gute Gründe. Daß du sogar den finsteren Hof betrittst, alles hat Gründe, argwöhnische Augen mustern dich durch die Fenster, was ein

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