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Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles

Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles

Titel: Jakobsweg - Ein Weg nicht nur für Gscheitles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Gast
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können. Wie schnell verflogen doch die Tage und damit auch mein Urlaub!
    Die Kirche San Nicolas mit seinem ursprünglichen Jesuitenkollegium, von dem Wandgemälde im gastronomisch genutzten Innenhof zeugen sollen, lag auf dem Weg. Durch das gewundene Bergtal des Baches Valcarce führte der Weg unmittelbar entlang einer wenig befahrenen Landstraße, der überwiegend durch eine ca. 70 cm hohe Betonbarriere vom Straßenkörper getrennt war. Wie auf Stelzen schwebte die Autobahn einige Kilometer lang seitwärts an den Berghängen bzw. über dem Tale. Die Nähe der Landstraße sowie der Autobahn hatte ich nicht als störend empfunden. Meine Konzentration galt einzig dem Weg sowie dem rauschenden Bache und seiner Ufervegetation. In der Ortschaft Pereje speiste ich zum Abend Spagetti mit Käse und dazu erneut vier Cokes, bevor ich mich nach 13,5 Tageskilometern in die hiesige Herberge begab.
     

Dienstag, den 15.06.:
     
    Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen, weil mich permanent der Gedanke beschäftigte, ob ich das „Recht der ersten Nacht“ in der Herberge der ca. 18 km entfernten Ortschaft La Faba wahrnehmen sollte. Zu diesem Rechte führte mein Reiseführer Folgendes aus:
 
„Sonderregelung:
Gemäß der an die Zuwendung des Degerlocher Hauptstifters Dr. Gerhard Raff geknüpften Auflage des „jus primae noctis“ entfallt diese Gebühr (Übernachtungspreis) für alle schwäbischen Pilger, die über die Gabe verfügen, eine Strophe aus dem Gedicht eines schwäbischen Dichters (Uhland, Mörike, Schiller o.a.) zu rezitieren bzw. entsprechend aus dem Lied eines schwäbischen Komponisten (Silcher o.a.) vorzusingen (Zitat aus der Hausordnung).“
     
    Als ich dieses das erste Mal in Molinaseca kurz vor Ponferrada las, musste ich derart herzhaft heraus lachen, dass mich sogleich zwei am Nachbartisch sitzende, aus Mitteldeutschland stammende Radfahrerinnen erstaunt fragten, weshalb ich denn so lachen müsse. Auf meine Antwort hin fragte eine der beiden wie aus der Pistole geschossen naseweis grinsend: „Ja und? Können Sie Eines?“
    „Eine Liedstrophe könnte ich schon hinbekommen“, war in scherzhaftem Tone meine Rückantwort.
    Nunmehr wurde es ernst! Das Einfachste wäre gewesen, einfach in die nächste Herberge weiter zu gehen und mich mir gegenüber damit zu entschuldigen, dass ich die Tageszeit zum Vorankommen nach Santiago de Compostela nutzen müsse. Dieses würde jedoch eine Art verdeckte „Feigheit vor dem Feinde“ bedeuten. Von Kindern erwartet jeder Erwachsene eine entsprechende Bereitschaft hierzu. Sobald man aber selbst mit dieser Erwartungshaltung konfrontiert ist, rutscht einem das Herz in die Hosentasche. Je eine Strophe aus den Liedern „Uff äm Wasä grasä’d Hasä“ (schwäbische Volksweise), „Preisend mit viel schönen Reden“ (Text von Justinus Kerner allerdings zu einer französischen Weise) und „Der Mond ist aufgegangen“ (Text möglicherweise von Eduard Mörike) fiel mir zwischenzeitlich hierzu ein. Insofern konnte ich mich gegenüber mir selbst auch nicht mit Unkenntnis rechtfertigen. Bei der Vorstellung jedoch, dass die übrigen Herbergler wie die Spatzen auf der Stange im Kreise in Erwartung des Kommenden da sitzen und man selbst sich möglicherweise in deren Mitte zum Vortrag begeben sollte, wurde mir äußerst mulmig um die Magengegend. Dieses war umso mehr der Fall, als dass eine deutschsprachige Herbergsmitbewohnerin in Pereje hierzu heute früh meinte: „Was? Du willst Dich vor all’ die Leute hinstellen und etwas Vorsingen? Typisch Schwäbisch!“
    Der Weg führte auch heute entlang den grünen Auen des Bergbaches Valcarce. Vom Wege aus entdeckte ich einen hübschen Restaurantfreisitz im Sprengel Herrerias, so dass ich mich entschloss, hier die Mittagsstunden bei einem guten Essen und dem Hauswein zu verbringen. Selbst jetzt noch bereitete mir der Gedanke an meine bevorstehende Prüfung große Pein. Ein Recht bedingt nun einmal auch den Mut, dieses anzuwenden. Da meine Pilgerreise von vornherein in gewisser Weise eine Mutprobe gewesen war, sollte sie nicht kurz vor deren Abschluss an meiner Feigheit scheitern.
    Aus meiner Gedankenwelt riss mich Alice, eine soeben kennen gelernte Blondine aus Schweden. Wir philosophierten über Gott und die Welt und über den Jakobsweg bis es an der Zeit war, die restlichen 2,5 km lange und ca. 300 Höhenmeter ansteigende Wegstrecke nach La Faba anzugehen. Zuvor jedoch verführte mich Alice zu einer Generalprobe meines Mutes, ihr die

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