James Bond 06 - Dr. No (German Edition)
Tong ihre Finger noch nach mir ausstrecken. Sie fanden mich. Die Mörder kamen in der Nacht. Sie folterten mich. Ich wollte ihnen nicht verraten, wo das Gold war. Sie folterten mich die ganze Nacht. Da sie mich nicht brechen konnten, schnitten sie mir die Hände ab, um zu beweisen, dass es sich bei der Leiche um die eines Diebes handelte. Dann jagten sie mir eine Kugel durchs Herz und gingen davon. Aber es gab etwas, das sie nicht über mich wussten. Ich bin einer der wenigen Menschen, bei denen sich das Herz auf der rechten Seite befindet. Das ist ein äußerst seltenes Phänomen. Die Chancen dafür stehen eins zu einer Million. Ich überlebte. Durch bloße Willenskraft überlebte ich die Operation und die Monate im Krankenhaus. Und die ganze Zeit über schmiedete ich Pläne und überlegte, wie ich mit dem Geld entkommen könnte – wie ich es behalten und was ich damit anstellen könnte.«
Doktor No hielt inne. Sein Gesicht war plötzlich gerötet, und unter dem Kimono zuckte sein Körper. Die Erinnerungen hatten ihn aufgeregt. Er schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich darauf, die Fassung zurückzugewinnen. Jetzt!, dachte Bond. Soll ich mich auf ihn stürzen und ihn töten? Mein Glas zerbrechen und ihm den scharfkantigen Stiel in den Hals rammen?
Die Augen öffneten sich wieder. »Ich langweile Sie doch nicht etwa? Sind Sie sicher? Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass Ihre Aufmerksamkeit abgelenkt war.«
»Nein.« Die Gelegenheit war vorbei. Würde es eine weitere geben? Bond schätzte die Zentimeter für den Sprung ein und bemerkte dabei, dass die Halsschlagader über dem Kragen des Kimonos deutlich zu erkennen war.
Die dünnen purpurnen Lippen teilten sich, und die Geschichte ging weiter. »Es war, Mister Bond, an der Zeit für deutliche, unumstößliche Entscheidungen. Als man mich aus dem Krankenhaus entließ, ging ich zu Silberstein, dem größten Briefmarkenhändler in New York. Ich kaufte einen Umschlag, nur einen Umschlag, der mit den seltensten Briefmarken der Welt gefüllt war. Es dauerte Wochen, sie zusammenzubekommen. Aber die Kosten spielten für mich keine Rolle – New York, London, Paris, Zürich. Ich wollte mein Gold transportabel machen. Ich investierte alles in diese Briefmarken. Ich hatte den Weltkrieg vorhergesehen und wusste, dass es zu einer Inflation kommen würde. Ich wusste, dass die Briefmarken im besten Fall im Wert steigen oder zumindest ihren damaligen Wert behalten würden. Und in der Zwischenzeit veränderte ich mein Aussehen. Ich ließ mir sämtliche Haare samt Wurzeln entfernen, meine breite Nase verkleinern, meinen Mund verbreitern und gleichzeitig meine Lippen verdünnen. Ich konnte nicht kleiner werden, also ließ ich mich größer machen. Ich trug orthopädische Schuhe, ließ wochenlang meine Wirbelsäule strecken und veränderte meine Körperhaltung. Ich legte meine mechanischen Hände ab und trug Wachshände unter Handschuhen. Ich änderte meinen Namen in Julius No – Julius nach meinem Vater und No für die Ablehnung, die ich ihm und jeglicher Autorität entgegenbrachte. Ich warf meine Brille weg und trug Kontaktlinsen – eins der ersten Paare, die je hergestellt wurden. Dann zog ich nach Milwaukee, wo es keine Chinesen gibt, und schrieb mich an der medizinischen Fakultät ein. Ich versteckte mich in der akademischen Welt, der Welt der Bibliotheken, Labors, Hörsäle und Campus. Und dort, Mister Bond, verlor ich mich im Studium des menschlichen Körpers und Geistes. Warum? Weil ich wissen wollte, wozu dieser Lehmklumpen imstande ist. Ich musste lernen, welche Werkzeuge mir zur Verfügung standen, bevor ich sie für mein nächstes Ziel einsetzen konnte – vollkommener Schutz vor körperlicher Schwäche, materiellen Gefahren und den Risiken des Lebens. Dann, Mister Bond, konnte ich mich von dieser sicheren Basis aus, die selbst gegen die einfachen Steinschleudern und Pfeile der Welt gewappnet ist, der Erringung von Macht widmen – jener Macht, Mister Bond, anderen das anzutun, was man mir angetan hatte, der Macht über Leben und Tod, der Macht zu entscheiden, zu urteilen, der Macht absoluter Unabhängigkeit von äußeren Autoritäten. Denn das, Mister Bond, ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, ist die Grundlage weltlicher Macht.«
Bond griff nach dem Mixbecher und schenkte sich einen dritten Drink ein. Er sah zu Honeychile. Sie wirkte gefasst und gleichgültig – als ob sich ihr Geist mit anderen Dingen beschäftigte. Sie lächelte ihn
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