Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
er so was wie eine Remission gehabt haben.« Sie sah mich fragend an.
»Sein Zustand war tatsächlich sehr schwankend«, sagte ich. »War er an einem Tag ausfällig und erschien wirklich paranoid, konnte er zwei Tage später wieder fast normal wirken. Dein Gedanke, dass Psychopathen nur ganz selten zu Psychotikern werden, ist interessant und richtig. Ich habe bei Jamey nie irgendein Anzeichen von Sadismus oder Manie festgestellt, es hat mir auch nie jemand Ähnliches berichtet. Hat einer von euch vielleicht so etwas an ihm bemerkt?«
»Nein«, sagte Josh. »Er war zwar asozial und wenig umgänglich, aber etwas Grausames hatte er nicht an sich. Vielleicht war sein Gewissen einfach überentwickelt.«
»Was willst du damit sagen?«
»Immer wenn er etwas Unfreundliches gesagt hatte, grübelte er. Er entschuldigte sich nicht, aber er war traurig.«
»Er mochte sich selbst nicht«, sagte Felicia. »Das Leben schien eine Last für ihn zu sein.«
Die beiden Jungen nickten zustimmend, Jennifer wurde ungeduldig.
»Wir sind vom Thema abgekommen. Wir haben gesehen, dass offenbar eine große Diskrepanz zwischen seiner Krankheit und den Verbrechen besteht, deren er beschuldigt wird. Hat sich denn noch kein vernünftiger Mensch die Frage gestellt, ob er die Morde vielleicht nicht begangen hat? Oder ist das einer der Fälle, in denen sie sich einen Sündenbock suchen, um dann die Sache auf sich beruhen zu lassen?«
Entrüstung stand ihr im Gesicht. Und die Hoffnung, dass es mir wenigstens Leid täte, wenn ich ihr widersprechen würde.
»Trotz der Widersprüche deutet alles darauf hin, dass er an den Morden beteiligt war, Jen.«
»Aber die...«
»Für mich gibt es überhaupt keine Widersprüche«, warf David ein. »Es kann doch so gewesen sein: Er war schizophren und sein Freund Chancellor ein Psychopath, der ihn dazu brachte, Leute umzubringen. Schon hat sich die Diskrepanz in Luft aufgelöst.«
Ich nahm eine gespannte Haltung an.
»Wie bist du darauf gekommen, David?«
»Dazu gehört doch nichts.« Er zuckte die Schultern. »Der Kerl pflegte doch Jamey abzuholen. Das war zwar seltsam, aber er hatte eine Menge Einfluss auf Jamey.«
»Wieso seltsam?«
»Körperlich und vom Verhalten her. Er war groß und muskulös, mit Muskeln wie Schwarzenegger, aber er war gekleidet wie ein Banker, dazu trug er eine Dauerwelle, blond gefärbt, er benutzte Wimperntusche und Puder, er duftete nach Parfüm und bewegte sich wie eine Frau.«
»Das Einzige, was du damit beweist, ist, dass er schwul war«, warf Jennifer ein. »Was heißt das schon?«
»Es ist noch mehr. Dass er schwul war, ist nur das eine, das andere ist, dass er eine riesige Show daraus machte. Es war, als rechne er sich seine Wirkung aus. Ich kann nicht sagen, warum, aber auf mich machte er den Eindruck von jemandem, der gerne andere manipuliert.« Er brach ab und sah mich an. »Ergibt das einen Sinn?«
»Sicher. Warum, glaubst du, hatte er so großen Einfluss auf Jamey?«
»Jeder, der den beiden begegnete, musste bemerken, dass Jamey eine Art Heldenverehrung mit ihm trieb. Er hatte es zu einer hohen Kunst entwickelt, sich abzukapseln. In dem Augenblick, in dem Chancellor zur Tür hereinkam, wachte Jamey auf und begann, zu reden wie ein Wasserfall.«
»Das stimmt«, sagte Josh. »Es ging wirklich eine auffallende Veränderung mit ihm vor. Nachdem Jamey ihn kennen gelernt hatte, änderte er seine Ansichten und Interessen radikal. Er vergaß die Lyrik und begeisterte sich für Wirtschaftsfragen.«
»Chancellor ließ ihn sogar für sich forschen«, fügte David hinzu, »er las Bücher, die er vorher nie angerührt hätte.«
»Was für Bücher waren das?«
»Ökonomische Bücher, glaube ich. Ich habe nie so genau hingeschaut. Mich langweilt dieses Zeug zu sehr.«
»Ich bin ihm mal in der Bibliothek der Wirtschaftsabteilung begegnet«, sagte Josh. »Als er mich sah, klappte er die Bücher zu und sagte, er müsse gehen. Ich sah, dass er Listen und Kolumnen abgeschrieben hatte, es sah nach Kreditsicherungen, Aktienkursen und Staatsanleihen aus.«
»Er hatte Einfluss auf sein Denken und Fühlen.« David lächelte. »Wenn Chancellor das fertig brachte, war es nur noch eine Kleinigkeit, ihn zum Mord anzustiften.«
»Das ist ja wirklich scheußlich«, sagte Jennifer schnell. Der Junge mit dem Bart warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und zuckte die Schultern.
»Was hältst du von Davids Theorie, Jen?«, fragte ich.
»Es scheint zusammenzupassen«, sagte sie ohne
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