Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Notruf«, sagte ich vorsichtig, »er bat mich um Hilfe.«
»Wobei?«
»Milo, was ist eigentlich los?«
»Kann ich dir jetzt nicht erklären, ich rufe später wieder an.«
»Moment mal, wie geht es dem Jungen?«
Jetzt war er es, der mit der Antwort zögerte. Ich sah ihn vor mir, wie er mit den Händen über sein großflächiges narbiges Gesicht fuhr.
»Alex«, sagte er seufzend, »ich muss jetzt wirklich gehen.«
Dann hörte ich es in der Leitung klicken.
So geht man mit einem Freund natürlich nicht um, und ich war sehr verärgert. Dann aber kam mir in den Sinn, welchen Fall er gerade bearbeitete, und ich war plötzlich wie gelähmt vor Schreck. Ich rief seine Dienststelle in West Los Angeles an, und nachdem ich mehrfach weiterverbunden worden war, erfuhr ich, dass Milo sich an einem Tatort aufhielt. Danach rief ich wieder in Canyon Oaks an. Die Verachtung von Mainwarings Sekretärin schlug mir unverblümt entgegen. Ich begann, mich als Außenseiter zu fühlen. Der Gedanke, dass Jamey etwas mit Milos Mordfall zu tun haben könnte, machte mich fast krank. Andererseits hatte ich jetzt wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt. Der Fall war dauernd in den Zeitungen gewesen, und wenn Milo mir nichts erzählen wollte, würden es vielleicht die Medien tun.
Ich schaltete das Radio ein und hörte mehrere Nachrichtensendungen ab. Kein Wort von der Geschichte. In den Fernsehnachrichten sah ich nichts als frisch geföhntes Haar und strahlend weiße Zähne. Fröhliches Geplauder und geschmackloses Geschwätz, zwischendurch ein paar deftige Portionen über Mord und Gewalttaten irgendwo in Amerika. Grauen in Hülle und Fülle, aber nicht, was ich suchte.
Ich griff nach der Morgenzeitung. Auch hier stand nichts. Ich kannte zwei Leute bei der Zeitung, den Redakteur der Spieleseite und Ned Biondi von der Metro Desk. Ich suchte Neds Nummer aus meinem Adressbuch heraus und rief ihn an.
»Doc! Mensch, wie geht’s dir?«
»Sehr gut, Ned. Und dir?«
»Ausgezeichnet. Ann Marie ist gerade bei der Cornell University angekommen.«
»Das ist ja toll, Ned. Grüße sie und gratuliere ihr von mir.«
»Gerne, ohne dich hätte das sicher nie geklappt.«
»Sie ist ein prima Mädchen.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber sag mal, weshalb rufst du an, was für einen Tipp hast du diesmal? Der letzte war gar nicht übel.«
»Keine Tipps heute«, sagte ich, »nur Fragen.«
»Also, frag bitte.«
»Ned, gibt es irgendetwas Neues im Zusammenhang mit den Lavendelmorden?«
»Nicht das Mindeste.« Seine Stimme war leicht erregt. »Ist dir was untergekommen?«
»Nichts.«
»Also nichts als zufällige Neugier?«
»Etwas in der Art.«
»Doc«, sagte er, »seit einem Monat tut sich nichts in dieser Sache. Wenn du irgendwas weißt, bitte mauere nicht.«
»Ich habe keine Ahnung von irgendwas, Ned.«
»Haha.«
»Ich wollte dich nicht stören, vergiss, dass ich angerufen habe.«
»Klar, ich hab es aus meinem Gedächtnis gelöscht.«
»Wiedersehen, Ned.«
»Bis dann, Doc.«
Wir wussten beide genau, dass zwar unser Gespräch beendet war, aber nicht die Sache.
Robin war bei bester Laune, als sie nach Hause kam. Sie duschte, schlüpfte in ein kleines Schwarzes und legte Schmuck an. Ich zog einen braunen Leinenanzug, ein blau gestreiftes Hemd mit weißem Kragen, eine blaue Krawatte und Schuhe aus Kalbsleder an. Das war vielleicht sehr modisch, aber ich kam mir wie ein Zombie vor. Arm in Arm gingen wir zur Straße hinunter auf meinen Wagen zu.
Robin setzte sich auf den Beifahrersitz, nahm meine Hand und drückte sie. Sie öffnete das Wagendach und ließ frische kalifornische Luft über ihr Gesicht strömen. Sie war wirklich bester Stimmung, strahlte vor Freude über einen schönen Abend, der noch vor ihr lag. Ich beugte mich zu ihr und küsste sie auf die Wange. Sie lächelte und bedeckte meine Lippen mit den ihren.
Wir küssten uns lange und zärtlich. Trotzdem musste ich fortwährend an Milos Anruf denken. Trübe und sorgenvolle Gedanken quälten mich. Ich gab mir Mühe, sie in Schranken zu halten, und schwor mir, Robin nicht den Abend zu verderben.
Ich zündete den Motor und legte eine Laurendo-Almeida-Kassette ein. Sanfte brasilianische Musik ertönte. Während ich anfuhr, gab ich mir Mühe, an Karneval und Mädchen in Bikinis zu denken.
Wir aßen in einem dunklen, nach Safran duftenden Restaurant in Westwood Village, in dem die Kellnerinnen Bauchtanzkostüme trugen und so indianisch aussahen wie Meryl Streep. Trotz dieser billigen
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