Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Brandy schmeckte bitter.
»Wie auch immer«, sagte ich, »jetzt sind sie sich doch begegnet, ohne mein Zutun.«
Wir gingen noch ein wenig am Strand spazieren, stiegen wieder in den Wagen und fuhren schweigend nach Hause. Robin legte ihren Kopf an meine Schulter; eine leichte Last. Um Mitternacht bog ich in nördlicher Richtung nach Beverly Glen ab, zehn Minuten später schloss ich die Haustür auf.
Im Briefschlitz steckte ein Umschlag, der beim Öffnen der Tür zu Boden fiel. Ich hob ihn auf und betrachtete ihn genauer. Er war um elf Uhr abgegeben worden und enthielt die Aufforderung, die Anwaltskanzlei von Horace Souza so bald wie möglich am nächsten Morgen anzurufen. »Betrifft J. Cadmus« stand darin. Die Telefonnummer war in Wilshire.
Es gab also doch jemanden, der mit mir über die Sache sprechen wollte.
5
Ich stand sehr früh auf, gleich nachdem die Morgenzeitung ausgetragen war. Unten auf der Seite las ich fett gedruckt: »Möglicher Durchbruch bei den Lavendelmorden«, aber ich erfuhr nichts Genaueres. Es hieß lediglich, dass die Polizei von Beverly Hills und das Sheriffs Department heute auf einer Pressekonferenz über die neueste Entwicklung der Ermittlungen berichten wollten. Ansonsten stand dort nur aufgewärmtes Zeug - längst bekannte Fakten, Interviews mit Familienangehörigen der Opfer und eine nüchterne Chronologie der Serienmorde, welche vor einem Jahr begonnen hatten und deren Zahl sich alle zwei Monate weiter erhöhte. Opfer jenes Metzgers von einem Mörder waren männliche Prostituierte zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren. Die meisten von ihnen stammten aus Mittelamerika und waren von zu Hause weggelaufen. Alle sechs Ermordeten waren mit lavendelfarbener Seide erwürgt und hinterher verstümmelt worden. Der Mörder hatte die Taten an unbekannten Orten begangen und die Leichen hinterher an verschiedenen Stellen in der Stadt deponiert. Die erste hatte man im Mülleimer eines Hinterhofs in einer Nebenstraße des Santa Monica Boulevard gefunden, im Herzen von Boystown, die sechste in der Nähe eines Wanderwegs im Will Rogans State Park. Zwei der Toten hatten in West Hollywood gelegen, die beiden letzten in West Los Angeles. Beverly Hills, das dazwischen liegt, war ausgelassen worden.
Ich legte die Zeitung weg und rief Horace Souzas Büro an. Die Nummer war offensichtlich seine eigene, denn er nahm selbst den Hörer ab.
»Vielen Dank, dass Sie so schnell angerufen haben, Doktor.«
»Worum geht es denn, Mr. Souza?«
»Ich vertrete einen Ihrer früheren Patienten, James Cadmus. Er ist in ein Verbrechen verwickelt, und ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen.«
»Welche Anklage liegt denn gegen ihn vor?«
»Das würde ich Ihnen lieber in einem persönlichen Gespräch sagen.«
»Gut. Ich könnte in einer Stunde in Ihrem Büro sein. Wo liegt es?«
»Das ist zu umständlich zu erklären, Doktor. Ich schicke Ihnen meinen Fahrer vorbei.«
Um acht Uhr schellte es an der Tür. Draußen stand ein Chauffeur in grauer Livree, etwa Anfang dreißig, groß und schlank. Seine Nase ragte nach vorn, und er hatte ein fliehendes Kinn. Sein Mund war fast völlig von einem dicken schwarzen Schnurrbart verdeckt. Sein Gesicht war bleich, er war frisch rasiert, entlang des Kiefers hatte er sich ein paar Mal geschnitten. Seine Mütze war weit nach hinten gerutscht und saß unsicher auf einer dichten Mähne braunen Haars, das bis über den Kragen reichte. Er trug mit Satinkanten versehene Hosen und Cowboystiefel mit metallverstärkten Spitzen. Seine dunklen Augen wirkten auf den ersten Blick ein wenig träge. Als er mir jedoch in die Augen sah, bemerkte ich, dass er mich sehr kritisch und aufmerksam musterte.
»Dr. Delaware? Mein Name ist Tully Antrim, ich soll Sie zu Mr. Souza bringen. Ich habe den Wagen weiter unten stehen lassen, damit er keine Kratzer kriegt.«
Wir verließen mein Grundstück und gingen die Zufahrtsstraße hinunter. Ich musste mich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Etwa fünfzig Meter oberhalb von Beverly Glen liegt ein Wendekreis, der von hohen Bäumen umgeben ist. Hier stand der Rolls-Royce, eine glänzende schwarze Phantom-IV-Limousine. Ich hatte so einen Wagen schon einmal auf einem Foto von Charles’ und Dianas Hochzeit gesehen.
Der Chauffeur öffnete mir den Wagenschlag, schloss ihn, nachdem ich Platz genommen hatte, geräuschlos, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz.
Man hätte darin tanzen können, so groß war der Wagen. Innen war er mit
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