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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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wurde. Rechts an der Wand hing ein großes Ölgemälde, das einen traurig dreinblickenden Indianer auf einem nicht weniger betrübt wirkenden Pferd darstellte. Links befand sich eine Tür, und Antrim klopfte. Ein mittelgroßer, etwa sechzigjähriger kahlköpfiger Mann öffnete. Er war von gedrungenem Wuchs, hatte große, dicke Hände. Er wirkte schwer, ohne eigentlich fett zu sein, und sein Untergestell ließ erkennen, dass er nicht so leicht umzuwerfen war. Seine Gesichtszüge waren derb und streng. Er besaß eine rosafarbene Haut, und das spärliche sandfarbene Haar trug er kurz und unfrisiert. Er hatte kein Jackett an, sein weißes Hemd aus feinem Mako war mit Monogramm versehen.
    Dazu trug er elegante marineblaue Hosen mit Trägern. Seine Krawatte zierte ein blaugelbes Paisleymuster. Die schwarzen Schuhe glänzten ebenso wie der Rolls-Royce.
    »Hier ist er, der Arzt«, sagte Antrim.
    »Danke, Tully«, antwortete der Kahlkopf mit sonorer Stimme. »Sie können gehen.«
    Er kam auf mich zu und ergriff meine Hand. Sein Parfüm duftete nach Zitrusfrüchten.
    »Dr. Delaware, ich bin Horace Souza. Verbindlichen Dank, dass Sie sich so kurzfristig hierher bemüht haben.«
    »Keine Ursache. Wie geht es Jamey?«
    Er drückte meine Hand plötzlich sehr fest, dann ließ er sie los.
    »Ich habe ihn vor ein paar Stunden gesehen. Er ist psychisch völlig daneben. Dabei ist das erst der Anfang. Wenn die Polizei erst mal ihr Wissen an die Presse weitergegeben hat, wird er nicht mehr Jamey Cadmus sein, sondern eine ganz andere Rolle spielen. Den Lavendelschlächter, das Monster des Monats.«
    Ich hatte das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen entglitt, dass ich in einen tiefen, endlosen Schacht fiel, wie man es manchmal im Albtraum erlebt. Ich war nicht geschockt, nicht einmal überrascht. Seit ich mit Milo gesprochen hatte, waren mir bereits die schlimmsten Gedanken gekommen.
    »Ich kann es nicht glauben«, war das Einzige, was mir über die Lippen kam.
    »Auch mir fällt es keineswegs leicht. Ich war bei seiner Taufe dabei, Doktor. Er war ein kleines, wohlgenährtes Baby, das man mit zwei Händen festhalten konnte.«
    Er rieb sich das Kinn mit Daumen und Zeigefinger.
    »Ich mache mir große Sorgen um ihn, Doktor. Er ist jetzt bereits sehr labil, aber sobald seine Festnahme bekannt wird, wird er völlig zusammenbrechen. Sie wissen ja, wir leben in harten Zeiten. Die Leute wollen alle Blut sehen. Sie werden ihn lynchen, wenn sie an ihn rankommen. Die Mordkommission verdächtigt ihn zweier Morde und wahrscheinlich noch sechs weiterer. Das ist vielfacher Mord und wird ihn mit Sicherheit in die Gaskammer bringen, wenn wir es nicht richtig machen. Mit richtig meine ich, vernünftig damit umgehen. Und mit vernünftig meine ich, gute Organisation und Zusammenarbeit. Kann ich dabei auf Sie zählen, Doktor?«
    »Was kann ich Ihrer Meinung nach zu Ihrer Arbeit beitragen?«
    »Darüber sollten wir jetzt sprechen. Bitte kommen Sie herein.«
    Wir betraten ein großes, helles Eckzimmer mit Türfenstern, die auf einen Balkon hinausgingen, der üppig mit Geranien und Kamelien bepflanzt war. Auch hier waren die Wände mit Indianerkunst verziert - die Bilder sahen aus wie Remington-Originale. Die weiße, hohe Zimmerdecke war gewölbt. Der Boden war aus heller Eiche, darüber lag eine Navajo-Brücke. In einer Ecke stand ein Chippendale-Tisch mit einem Teeservice aus Porzellan. Alles Übrige war eingerichtet wie das Büro eines gut verdienenden Anwalts: ein riesiger Schreibtisch, Ledersessel, fünf Quadratmeter Akten, ein Glasschrank mit Gesetzestexten.
    Ein Mann, ungefähr so alt wie ich, saß steif in einem der Sessel und blickte auf seine Schuhe. Als er uns kommen hörte, stand er schwerfällig auf und rückte seine Krawatte zurecht.
    Souza ging zu ihm und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter.
    »Doktor, dies ist Dwight Cadmus, der Onkel und Vormund des Jungen. Dwight, dies ist Doktor Alexander Delaware.«
    Mein Name sagte Cadmus offenbar nichts, zumindest ließ er sich nichts anmerken. Er reichte mir nur seine weiche, feuchte Hand. Er war groß und von gebückter Haltung, hatte schütteres braunes Haar und verbarg hinter dicken Brillengläsern scheue Augen, die ganz rot vor Kummer waren. Er hatte regelmäßige, glatte Gesichtszüge wie eine polierte Skulptur. Er trug einen braunen Anzug, ein weißes Hemd und eine braune Krawatte. Es waren keine teuren Kleider, und offensichtlich hatte er darin geschlafen.
    »Doktor«, sagte er

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