Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
Schillerplatz aus hatte er den noblen Reisebus entdeckt, der in unmittelbarer Nähe des Pfalztheaters parkte. Da der Bus jedoch die Sicht auf die Gruppe versperrte, war von den Teilnehmern dieser nächtlichen Kulturexkursion kaum jemand zu sehen.
Als er das Heck des Reisebusses erreichte, atmete er noch einmal kräftig durch. Dann kratzte er allen Mut zusammen und bog um die Ecke. Doch bereits nach seinem ersten Schritt blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Er wurde von einer lange zurückliegenden Erinnerung überfallen. Sie beamte ihn zurück in seine Zeit als Polizeischüler. Damals wurden er und seine jungen Kollegen zum Schutz des Frankfurter Opernballs abgeordnet.
Es kam zu schweren Ausschreitungen, bei denen auch einige der jungen Polizisten verletzt wurden. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, dass ihn die Gewaltbereitschaft und der offen zur Schau getragene Hass dieser militanten Demonstranten so sehr schockierte, dass er ernsthaft mit dem Gedanken spielte, seine Ausbildung abzubrechen und ein Studium zu beginnen.
Und diese circa dreißig Frauen und Männer, die vor dem Pfalztheater in kleineren Grüppchen beisammenstanden und sich angeregt unterhielten, ähnelten frappierend der Prominenz, die er und seine Kollegen damals vor dem marodierenden Mob hatten schützen müssen.
Tannenberg empfand sich mit einem Mal als absoluter Fremdkörper. Er fühlte sich wie ein frisch aus einer Jauchegrube herausgezogener Straßenköter, den man mitten in eine Pudelausstellung hineingeworfen hatte. Er hatte panische Angst, dass sich nun alle Blicke auf ihn richten würden. Doch die festlich gekleideten Gestalten schienen keinerlei Notiz von ihm zu nehmen.
Ich bin ganz sicher keiner von denen – aber ich bin auch kein Demonstrant. Was soll ich also hier?, fragte er sich verzweifelt.
Am liebsten hätte er auf dem Fuße kehrt gemacht. Doch dann erblickte er Johanna von Hoheneck. Sie stand mit dem Rücken zu ihm gewandt und hörte geduldig einem älteren Mann zu.
Ach du Scheiße, das ist ja dieser aufdringliche Hobbyhistoriker von heute Morgen, dachte Tannenberg, als sich Hanne zu ihm umdrehte und dadurch das Konterfei ihres Gesprächspartners freigab.
Gleich darauf traf ihn zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit der Schlag. Dieser Anblick raubte ihm fast den Atem – und ließ auf der Stelle sämtliche Fluchtgedanken verschwinden. Hanne sah einfach umwerfend aus. Sie trug ein kurzes schwarzes, extrem figurbetonendes Kleid mit seitlichen Raffungen und asymmetrischen Saum- und Ärmelabschlüssen. Ihre naturblonden langen Haare bildeten einen effektvollen Kontrast zu ihrem pechschwarzen Kleid. Die hochhackigen Pumps verliehen ihr das Flair eines männernarkotisierenden Supermodells – fand Tannenberg zumindest.
Er vermochte sein Glück kaum zu fassen. Diese Traumfrau lächelt dich an, kommt auf dich zu, jubilierte er in Gedanken und ergänzte, nachdem sie ihm zur Begrüßung zwei zarte Küsschen auf die Wangen gehaucht hatte, hat dich gerade geküsst.
Genau jetzt in diesem Moment sterben – kann es denn etwas Schöneres geben?
Der Intendant des Pfalztheaters fungierte höchstpersönlich als Reiseleiter der exklusiven Kulturveranstaltung. Als die Gäste dieses Überraschungsevents den Bus bestiegen hatten, rief er die angemeldeten Teilnehmer einzeln mit ihrem vollständigen Namen auf. Nach dem, was Tannenberg da an stadtbekannten Familiennamen zu Ohren kam, handelte es sich bei dieser Gruppe um die halbe High-Society seiner Heimatstadt.
Oh leck, wo bin ich denn da bloß hineingeraten?, fragte er sich in Gedanken. Die Karten für diesen Horrortrip waren bestimmt schweineteuer. Mann, oh Mann, auf was hab ich mich da nur eingelassen?
Halt jetzt endlich deinen Rand, du Jammerlappen und genieß den Abend!, mischte sich seine innere Stimme ein. Es wird sowieso hundertprozentig der erste und letzte in deinem Leben bleiben, den du mit einer echten Adligen verbringen darfst. Diese Zuckerpuppe hat nämlich garantiert schon sehr bald die Schnauze voll von dir. So phantastisch, wie die aussieht, hat sie sicher die totale Auswahl. Hast du Blindgänger denn noch nicht bemerkt, wie diese Lackaffen sie alle anglotzen und wie giftig die Blicke der anderen Frauen sind?
Tannenberg ließ einen tiefen Stoßseufzer verlauten.
Dieser blieb Johanna von Hoheneck nicht verborgen. »Was bedrückt Sie denn?«, flüsterte sie in mitfühlendem Ton.
Er wusste zunächst überhaupt nicht, was er antworten sollte. Ja, er wusste noch
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