Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
nicht. Aber es ist schon mehr als merkwürdig, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als unser lieber Herr Professor nach Harvard gewechselt ist, diese Mordserie plötzlich zu Ende war. Wobei ja zudem ins Gewicht fällt, dass der Täter damals nicht geschnappt werden konnte.«
»Kein Wunder, wenn er sich ins Ausland abgesetzt hat.«
Michaels Chef brummte zustimmend. Dann fasste er seinen Kollegen scharf ins Auge. »Aber wenn dem wirklich so war und dieser renommierte Professor tatsächlich ein Mörder ist – wieso dann der Mord an diesem anderen Mann?«
»Na ja, vielleicht handelt es sich dabei um die Tat eines Trittbrettfahrers. Einer, der die Gelegenheit genutzt hat, um sich jemanden vom Hals zu schaffen und seine Tat einem anderen in die Schuhe zu schieben.«
»Aber die Artikel über den Fund unseres toten Professors standen doch erst am nächsten Morgen in den Zeitungen. Da hatte ich das zweite Opfer bereits gefunden. Dein Trittbrettfahrer konnte davon noch gar nichts wissen.«
»Das mit den Zeitungen ist zwar richtig, Wolf, aber in den Radio- und Fernsehnachrichten kamen schon am Abend vorher ausführliche Berichte darüber.«
»Hast recht. Das würde dann ja auch zeitlich passen«, murmelte der Kommissariatsleiter nachdenklich vor sich hin.
Wolfram Tannenberg erteilte seinem jungen Mitarbeiter weitere Aufträge. Als dieser den Raum verlassen hatte, versuchte er sich auf seiner Schreibtischunterlage einen Überblick über den aktuellen Stand der Ermittlungen zu verschaffen. Das, was er da aufzeichnete, spiegelte so ziemlich genau das heillose Chaos unter seiner Schädeldecke wieder. Nach ein paar Minuten riss er frustriert den großen Papierbogen ab, knüllte ihn zusammen und warf ihn in Richtung eines Mülleimers. Zu seiner großen Überraschung trudelte der Papierball mitten in die kreisrunde Öffnung hinein. Kopfschüttelnd griff er abermals zum Telefonhörer.
Er zögerte und krauste nachdenklich die Stirn. Zum einen, weil ihm gerade klar wurde, dass er die anzuwählende Nummer erst im Telefonbuch nachschlagen musste. Und zum anderen, weil er sich unsicher war, ob das, was er gerade vorhatte, überhaupt Sinn machte.
Wenn ich sie jetzt anrufe, sinnierte er, meint sie doch bestimmt, dass ich mich nur aus einem fadenscheinigen Grund bei ihr melde. Wahrscheinlich denkt sie dann: Oh Gott, muss es diesen Kerl erwischt haben. Der benimmt sich ja wie ein pubertierender Jüngling bei seiner ersten Freundin.
Ach was, du alter Ochse, schaltete sich sein psychisches Korrektiv ein, verkomplizier doch nicht schon wieder alles. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Da ist auf der einen Seite der Kripobeamte, der bei einer Mitarbeiterin eines historischen Instituts um wichtige Informationen nachsucht. Und da ist auf der anderen Seite der … ja, der was? … der, der Mann in den besten Jahren, der heute Abend mit einer netten, fünfzehn Jahre jüngeren Superfrau ausgeht. Also, Junge, benimm dich einfach so normal wie möglich!
Der Anruf ging tatsächlich völlig sachlich und unverkrampft über die Bühne. Tannenberg fragte Johanna von Hoheneck, ob die Bibliothek des Pfalzinstituts Bücher über mittelalterliche Waffen besitze. Sie schaute kurz im Schlagwortverzeichnis ihres Computers nach und wurde gleich mehrfach fündig. Sie versprach, die Bücher herauszusuchen und sie ihm nachher mitzubringen.
Er hatte gerade aufgelegt, als ein Wort wie ein mit Nadeln gespickter Tennisball in seinem Kopf herumzuhüpfen begann: ›Abendgarderobe‹. Hat sie nicht heute Morgen bei ihrem Anruf ›Abendgarderobe erwünscht‹ oder so was ähnliches gesagt?, dachte er bei sich. Als unverbesserlicher Kulturmuffel und Kunstbanause hatte sein Gehirn diesen furchterregenden Begriff offensichtlich sofort von der Bewusstseinsebene verscheucht.
Da Wolfram Tannenberg selbst keine angemessene Kleidung besaß, musste er wohl oder übel seinen Bruder konsultieren. Als Kulturfetischist verfügte Heiner über einen reichhaltigen Fundus. Natürlich wurde er wieder mit bohrenden Fragen belästigt. Aber der Kriminalbeamte erledigte diese unangenehme Sache zügig. Geradezu in Windeseile staffierte er sich mit einem dunkelblauen Anzug, einem blütenweißen Hemd und einer farblich darauf abgestimmte Seidenkrawatte aus. Für seine Verhältnisse sah er damit todschick aus, was ihm sogar seine Schwägerin Betty bestätigte.
Kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt überquerte er an der Fruchthalle die Ost-West-Achse. Bereits vom
Weitere Kostenlose Bücher